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Väterchen Frost hat es so gewollt

Vom Klima vertrieben spielt ZSKA Moskau 1:1 gegen Olympique Marseille  ■ Aus Berlin Nikolaus Hillmannn

Berlin (taz) – Eine Militärkolonne rollt vom Brandenburger Tor auf den Großen Stern zu. Eskortiert von Berliner Polizei streben gut zwei Dutzend Busse und Lastwagen hurtig gen Westen; das Ziel der weiß-blau-rote Fahnen schwenkenden Insassen – das Olympiastadion. 3.000 Soldaten der Roten Armee aus allen Teilen der alten DDR wollen zum Fußball, Europapokal der Landesmeister, ZSKA Moskau gegen Olympique Marseille. Väterchen Frost und Matwej Burlakow haben es so gewollt.

Denn der FC ZSKA Moskau, letzter Meister der GUS und Teilnehmer an der Endrunde im Europacup, hat ein Problem. Wegen des strengen Winters in der russischen Hauptstadt ist Fußballspielen dort unmöglich, also mußten die Heimspiele des ZSKA verlegt werden. Letztendlich wurde Berlin – wo in den letzten Tagen die gleichen Witterungsverhältnisse herrschten wie in Moskau – ausgewählt, schließlich sind immer noch rund 200.000 russische Soldaten in der ehemaligen DDR stationiert. Genosse Generaloberst Burlakow, Oberbefehlshaber der Roten Armee in Deutschland, besorgte zur Schaffung von Heimspielatmosphäre seinen Untergebenen verbilligte Tickets.

Doch was heißt schon billig. Immer noch die Hälfte von 20 Mark kosteten die Karten für Armeeangehörige. Bei einem Monatslohn von 25 Mark eine teure Angelegenheit. Der Rest des kärglichen Lohnes wurde flüssig investiert. Vor den Kassenhäuschen am Olympiastadion waberte Alkoholdunst in höchster Konzentration, bei den strengen Kontrollen am Einlaß wurden nicht nur Gläser mit Wurst und Gurken konfisziert, sondern stapelten sich Berge von Dosenbier und Wodkaflaschen.

Trotzdem ist die Atmosphäre an diesem Abend ganz anders, als wenn die Hausherrin Hertha hier spielt, entspannter und freundlicher. Deutsches Publikum ist weder zu sehen noch zu hören, unter den 13.000 befinden sich fast nur Franzosen und Russen – diese meist im graubraunen Winterfilz der Armee. Die Berliner ignorieren Spitzenfußball ohne deutsche Beteiligung. In dieser Stadt interessiert man sich – altes Mauersyndrom – eher für sich selbst.

Der einzige, der sie hätte locken können, sitzt auf der Tribüne. Ein leicht ergrauter Lockenkopf, von Boulevardzeitungen nur noch Ruuuuudi Völler genannt, durfte wegen einer Rippenprellung nicht spielen. Und der ehemals so ruhmreiche Armeesportklub aus Moskau bestand gar nur aus einer Art Juniorenmannschaft mit lauter Unbekannten, die zudem seit November vergangenen Jahres kein Pflichtspiel mehr bestritten hatten.

Und dennoch: Nach einer Viertelstunde eher derberen Abtastens boten beide Teams ein Spiel, das durchaus hohen internationalen Ansprüchen gerecht wurde. Die Spieler verfielen in eine Art taktische Anarchie, oberstes Gebot schien es zu sein, den Ball schnell und dennoch kunstvoll in Richtung gegnerisches Tor zu befördern.

Der einzige Vorteil, den die Franzosen hierbei besaßen, war ihre größere Routine gegenüber dem Moskauer Kindergarten, der regelmäßig im Marseiller Strafraum die Übersicht verlor. Die Cleverness von Abedi Pele, Afrikas Fußballer des Jahres, brachte Marseille denn auch in der 28. Minute in Führung, ein Zuspiel von Boksic lupfte er schlitzohrig ins Tor. Ein Pfostenschuß sowie ein halbes Dutzend erstklassiger Chancen waren die weitere Ausbeute von Olympique, die Schlamperei bei der Verwertung hätte sie beinahe auch noch das Unentschieden gekostet.

Zwar konnte Ilchat Faizoullin nach grandiosem Solo in der 55. Minute für Moskau ausgleichen, das Siegtor aber verdaddelte er wenig später leichtsinnig. Zunächst rutschte der Ball von Torwart Fabien Barthez' Spann genau auf Faizoullin zu, aber dessen anschließender Schuß aufs leere Tor war so kümmerlich, daß der herbeigeeilte Dessailly retten konnte. Beide Mannschaften hatten das Spiel so munter betrieben, daß zumindest die Moskauer gegen Ende sich kaum noch bewegen konnten. Stehend K.o. retteten sie aber das Remis gegen das Marseiller Powerplay.

Ihren uniformierten Fans auf der Tribüne war das alles ziemlich wurscht. Die ausgelassene Stimmung untermalte die chaotischste Militärkapelle in der Geschichte der Roten Armee in schrägen Rhythmen mit russischen Volksweisheiten, der Grund hierfür wurde schnell klar: immerhin sie hatten, versteckt in der großen Tuba, einige Flaschen Wodka an den Kontrollen vorbeigeschmugelt.

Viertelfinal-Hinspiele, Europacup der Pokalsieger: Feyenoord Rotterdam - Spartak Moskau 0:1, Sparta Prag - AC Parma 0:0, UEFA- Cup: AJ Auxerre - Ajax Amsterdam 4:2

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