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Ein Kino der unreinen Formen

■ Erste Werkschau des Taiwanesen Hou Hsiao Hsien im Zeughaus-Kino

Das PR-Foto zum Film trügt, oder aber es hat eine eigene Intensität jenseits des Films: zwei Frauen – das zumindest sieht man; die eine noch ein Kind, die andere eine Wahnsinnige, die das Kind streichelt, das ein Stofftier im Arm hält. Nahezu eine Pietà, zielte im Film das Begehren nicht aus dem Bild hinaus, rotieren die Gesten der Annäherung nicht in einer Dauer der Bilder, die hier unterbrochen ist und zum Körperarrangement gerinnt. Ein Ausdruck hat, sagt Wittgenstein, nur im Strome des Lebens Bedeutung.

Hou Hsiao Hsien benutzt Breitwandformat für seine Filme. Man müßte das Foto quer legen, um einen Eindruck davon zu bekommen. Rechts am Rand jedoch schiebt eine Wand sich ins Bild; im Foto eine Zone der Unschärfe, im Film ein Rahmen im Inneren der Einstellung. Hsiao Hsien komponiert seine Bilder wie einen Comic- Strip, wo die Räume nahtlos ineinander überzugehen scheinen, wo nicht Figuren in Räumen stehen, sondern Verschiebungen Räume definieren. Man kennt das aus japanischen Filmen, wo die Türen und Wände wie Bildflächen funktionieren und die Räume nicht begehbar sind.

Die Szene entstammt dem Film „Dongdong de jiagi“ (1984), der als einziger der Filme Hsiao Hsiens unter dem Titel „Große Ferien“ bereits einmal im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Film erzählt von Kindern, die zu Beobachtern werden, die einen fremden Blick in die Erwachsenenwelt einführen. Und immer wieder wollen die Erwachsenen den Blick der Kinder bannen. Der Film entdeckt nämlich minoritäre Blicke, die andere Wahrnehmungsinteressen haben. Manchmal scheint das Breitwandformat mehrere Perspektiven ineinanderzustellen und so dem Raum ein Zentrum zu nehmen.

Hsiao Hsien dezentriert das Bild: es geht nicht um Geschichten, sondern um eine Häufung von Perspektiven im Bild, um das wahrgenommene Bild. Oft verschwinden darin die Personen und tauchen auf einmal wieder hervor, um erneut eine Perspektive in den Film einzuführen. Es ist, als solle kein Bild als absoluter Blick auftreten. Protagonist ist stets ein Kollektiv, und das Kollektiv ist zugleich ein sozialer Außenseiter: Kinder, Wahnsinnige, Alte, Kriminelle, Behinderte.

Das taiwanesische Kino ist weitaus stärker als das japanische, ein Kino der unreinen Form, eine soziokulturelle Mischform; es kennt keine Klassiker. So handeln die Filme meist von gesellschaftlichen Verdichtungen und Dynamisierungen statt von kultureller Identität und Traditionsbrüchen. Das Bild ist zu allen Seiten hin offen, ein Bereich des Übergangs. Hsiao Hsien ist dort dem italienischen Neorealismus sehr nahe. Kein Bild soll sich hier zum Tableau abschließen.

Hsiao Hsien ist, obschon er für seinen Film „Beiqing chengshi“ („Stadt der Trauer“, 1989) in Venedig den Goldenen Löwen erhielt, immer noch weitgehend unbekannt. Das Zeughaus-Kino und sein Leiter Rainer Rother betrachten zum Glück ihren Auftrag innerhalb des Deutschen Historischen Museums recht undogmatisch; im März stellen sie die erste vollständige Werkschau des Regisseurs vor. Zum Teil sind die Filme erstmals in Deutschland zu sehen; alle laufen in der Originalfassung mit englischen Untertiteln, „Beiqing chengshi“ zusätzlich in einer deutsch synchronisierten Fassung. Lars Henrik Gass

Hou Hsiao Hsien: „Geschichten einer fernen Kindheit“ (1985); „Die Jungen von Fengkuei“ (1983); „Große Ferien“ (1984); „Tochter des Nils“ (1987); „Liebe Wind Staub“ (1986); „Stadt der Traurigkeit“ (1989). Alle Filme: engl. UT. im Zeughaus-Kino, Unter den Linden 2).

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