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■ Das System Kohl beginnt zu kollabierenGötterdämmerung

Die Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter. Unter diesem Motto hat Helmut Kohl mittlerweile elf Jahre als Kanzler und jahrzehntelang als Parteivorsitzender seine Kritiker ignoriert und kaltgestellt – immer mit Erfolg. Mit traumwandlerischer Sicherheit wanderte der tumbe Kanzler auf den Pfaden der Macht und perfektionierte sein System wechselseitiger Abhängigkeiten zu einer unerschütterlichen Klientelpartei. Als Pate der Union kanzelte er ohne Rücksicht auf übergeordnete Parteiinteressen jede potentiell aufmüpfige Figur gnadenlos ab – zuletzt noch Volker Rühe, der sich zunehmend eine eigene Meinung erlaubt hatte.

Eigentlich kann Kohl gar nichts erschüttern, und doch wird er nun, nach elf Jahren, erstmals Opfer einer Meuterei: Die Mannschaft zeigt Flagge. Der mühsam im Koalitionsausschuß erhandelte Kompromiß zur Erhöhung der Mineralölsteuer fand vor der CDU- Fraktion keine Gnade. Was am Donnerstagabend bei der Union passierte, ist das genaue Gegenteil von dem, als das es Schäuble später zu verkaufen suchte: Die Fraktion hat eben nicht in bester demokratischer Tradition „mal anders abgestimmt“ als zuvor der Kanzler – sondern die Mehrheit dieser Fraktion hat erstmals in elf Jahren Regierung dem System-Kohl die rote Karte gezeigt.

Bislang war es bei gelegentlichen Lamenti über die Abstimmungsmaschinerie (die nur noch die Bestätigung zuvor mit den Koalitionsspitzen abgemachter Entscheidungen zuließ) geblieben. Daß jetzt aus der Maulerei offener Aufruhr wird, ist kein Hauch von Antiautoritarismus, sondern ein Indiz für nackte Panik: Es signalisiert in allererster Linie die Befürchtung der Abgeordneten, das System Kohl könne ihnen ihre Diäten für die kommende Legislaturperiode nicht mehr sichern. Ein wahrer Treppenwitz der Geschichte wäre, wenn es Kohl ausgerechnet bei der Ökologie erwischte: Den grünen Punkt hat er nicht verdient.

Immerhin könnte es den Anfang vom Ende markieren. Bestätigen die hessischen Kommunalwahlen am Sonntag den Abwärtstrend der CDU, wird Kohl große Schwierigkeiten haben, seine Niederlage in der Fraktion zu einer einmaligen Entgleisung herunterzumogeln. Das Mißtrauen gegen ihn nähme zu, und immer mehr Mandatsträger könnten in Schäuble, der im konkreten Konflikt geschickt den Fraktionsmainstream repräsentiert, ihren Lotsen ans rettende Ufer erblicken.

Ohne daß die eine mit der anderen Sache etwas zu tun hätte, verschärfen Engholms Kalamitäten um die Pfeiffer-Spende das Bewußtsein der dahinschwindenden Sicherheiten. Die Behauptung der SPD-Sprecherin Sonntag, Kohl habe seinen Laden nicht mehr im Griff, ist zwar richtig, trifft aber ebenso auf die Schleswig-Holsteiner Geschäfte zu. Die Vorleute beider großer Parteien kämpfen eineinhalb Jahre vor den entscheidenden Bundestagswahlen dieses Jahrzehnts um ihr politisches Überleben. Überzeugende Angebote zur Überwindung der sich dynamisch entwickelnden Krisen haben beide nicht. Als es darum ging, die demokratische Substanz einer offenen Gesellschaft gegen den neuen Rassismus offensiv zu verteidgen, hat Engholm genauso versagt wie Kohl.

Angesichts der wachsenden Zahl von Nichtwählern zeigen alle Umfragen, daß der eine so wenig wie der andere in der Lage ist, politische Phantasie zu mobilisieren und damit einen gesellschaftlichen Aufschwung zu erzeugen. Dieser ganze Null ouvert verpflichtet geradezu, die Karten neu zu mischen. Gäbe es überzeugende personelle Alternativen, wäre ein Wechsel zweifellos auch schon vollzogen. Zwar verspräche das Duell Schäuble versus Schröder hohe demagogische Qualität, aber keine echte Erneuerung. Beide sind Pragmatiker der Macht, die sich wahrscheinlich ganz schnell in einer großen Koalition wiederfänden. Immerhin böte eine Neubesetzung in der Führungsetage die Möglichkeit produktiver Unordnung. Besser als diese Ordnung wäre das allemal. Jürgen Gottschlich

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