Medaillenschmieden stehen vor Neuanfang

■ Zukunft der Jugendsportschulen: Ziel sind nicht mehr Olympiasieger

Berlin. Früher wurden hier die Medaillen für die DDR geschmiedet. Heute ist ein Funke Hoffnung das einzige Feuer, das in den ehemaligen Nachwuchsschmieden brennt. Für die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) war nach der Wende kein Platz mehr im neuen Schulsystem Marke West. „Das System der KJS ist, so wie es war, nicht zu retten. Das ist auch gar nicht die Absicht“, sagt Professor Wolf-Dietrich Brettschneider von der Freien Universität Berlin, der den Modellversuch wissenschaftlich begleitet, bei dem die vier ehemaligen KJS zu drei Schulen mit sportlichem Schwerpunkt zusammengefaßt wurden. Gesucht wird also „die Mischung aus der ehemaligen DDR-Praxis und dem, was die Schulgesetzgebung heute zuläßt“.

Die Rahmenbedingungen haben sich grundsätzlich geändert. Zentralistisch wurden früher begabte Kinder und Jugendliche an die einzelnen Schulen delegiert, von denen es insgesamt 25 gab. Heute steht jedem sportinteressierten Schüler der Zugang offen. Mehr als 1.300 Schüler zählt zum Beispiel die Werner-Seelenbinder- Oberschule, eine der drei neuen Schulen mit sportlichem Schwerpunkt. Die Belange der Schule besitzen nun Priorität vor denen des Sports, und die reine Orientierung auf den Leistungssport wich der Öffnung zum Breitensport.

Leistungsorientierte Kinder, wie zum Beispiel Schwimmstar Franziska van Almsick, zählen genauso zu den Schülern wie sportbegabte Jugendliche ohne irgendwelche Ambitionen auf Meistertitel. Zwangsläufig wurde die Angebotspalette der Sportarten erweitert, die jetzt „nicht mehr nur die 19 medaillenträchtigen Sportarten“ umfaßt, wie Prof. Brettschneider erklärt. Auch die Schüler-Lehrer- Relation von ehedem 3:1 wurde den neuen Verhältnissen angepaßt. Heute beträgt sie 10:1, während langfristig das Normalmaß von 25:1 angestrebt wird.

„Auch bei der früher engen Verzahnung zwischen Schule und Sportklub gibt es Auflösungserscheinungen“, berichtet Brettschneider, die Kinder können sich ihren Sportverein selbst aussuchen. Der Stundenplan wird auch nicht mehr den sportlichen Anforderungen angepaßt, sondern neben zwei Trainingseinheiten am Tag wird auch den leistungssportlich orientierten Kindern das volle schulische Pensum abverlangt.

Als „Begabtenförderung“ stuft Brettschneider das Modell ein, das in eine demokratische Gesellschaft passen soll wie etwa die besondere Förderung musischer Begabungen. Die „Förderung der Gesamtpersönlichkeit“ stehe im Vordergrund, statt Olympiasieger und Weltmeister um jeden Preis hervorzubringen. „Es geht darum, Leistungssportkarriere und schulische Laufbahn so zu verzahnen, daß die Gesamtentwicklung des Kindes positiv gefördert wird“, sagt Brettschneider, der bei den Modellschulen einen enormen Zulauf ausgemacht hat. „Die Nachfrage ist größer als das Angebot.“ Vor allem die Eltern in Ostberlin sähen die Sportschulen als letzten Ort, an dem nicht Auflösungserscheinungen und Orientierungslosigkeit herrschten. „Die Vorstellung, mein Sohn kann Olympiasieger werden, ist noch immer in den Köpfen.“

Diese Vorstellung schwirrt sicher auch in den Köpfen einiger Sportfunktionäre des neuen Deutschlands herum, die gern das frühere Erfolgsrezept für Medaillen retten wollen. Bis zum April soll sich entscheiden, welche Schlüsse für die Kombination von Schule und Sport Wolf-Dietrich Brettschneider zieht. Ulrich Loke