■ Solidarpakt-Debatte im Bundestag – die Volksparteien ziehen ihre Art von Lehren aus dem hessischen Wahldebakel
: Flucht in die Konfrontation

Die Zeiten sind kurzlebig. Denen das Wasser bis zum Halse steht, fehlt ohnehin die Chance, noch einmal in aller Ruhe darüber nachzudenken, wie man die Katastrophe abwenden könnte. Aber immerhin – die Reflexe funktionieren. Wenn sich die „Akteure“ auf die Zehenspitzen stellen, scheint es ihnen einen Moment lang doch, als sinke der bedrohliche Wasserspiegel schon wieder.

So geschehen, gestern im Bundestag. Für die Koalition, für die sich der Schock der Hessenwahl, dank des sozialdemokratischen Dramas, ohnehin in Grenzen hielt, war es ein leichtes, ihre umstrittenen Konsolidierungspläne noch etwas unbeirrter als geplant zu präsentieren. Einen Tag vor der großen Solidarpakt- Runde eine schöne Gelegenheit, die Fronten zu stabilisieren, um deren Auflösung – wie alle Beteiligten wissen – es gehen müßte, sollte aus dem landauf, landab beschworenen Solidarpakt noch etwas werden.

Politik als Konfrontationsspektakel – da wollen auch die konsternierten Sozialdemokraten nicht länger nachstehen. „Schutzmacht der kleinen Leute“, heißt für die SPD die einfallslos-ehrbare Rettungsparole nach dem hessischen Wahlschock. Strafweise in Szene setzen durfte sie gestern erstmals Fraktionschef Hans-Ulrich Klose. Der bislang als weichlich Verschrieene muß jetzt mit aggressiver Gerechtigkeitsrhetorik den Dreßler mimen. Profil geschärft, Wiederwahlchancen erhöht, Fraktion entzückt.

Da behaupte einer, die Volksparteien seien nicht reaktionsfähig. Gut, aber lernfähig? – „Wahrheit, Klarheit, Gerechtigkeit“, tönt Klose ins Plenum. Nichts einfacher als das – zu a: Das westdeutsche Wohlstandsniveau wird nicht der Maßstab sein können, wenn man den nationalen – gar europäischen – Ost-West-Ausgleich als prioritäres Ziel anerkennt. Zu b: Mit jedem Tag, an dem die beiden Parteien die unangenehme Botschaft abfedern, statt sie gemeinsam als unabweisbare Zumutung plausibel zu machen und einzufordern, schwindet die Akzeptanz für das Schrumpfungsprogramm. Zu c: Gerechtigkeit ist kein Synonym für Besitzstandswahrung. Klar ist: Nur wenn der Verzicht gerecht organisiert wird, läßt sich für ihn werben.

Eine schöne Aufgabe für die verunsicherten Volksparteien: Sie konfrontieren die jeweils eigene, nicht die Klientel des politischen Gegners, mit den erforderlichen Einschnitten. Das mag, angesichts der eingespielten Mechanismen, absurd klingen. Aber was eigentlich spricht für das Vertrauen der großen Parteien, den Legitimationsverfall zu stoppen, indem man den bisherigen Kurs noch etwas bornierter und unerbittlicher verfolgt? Matthias Geis