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Schafft Mikhashoff das?

Sportliches, entschieden Antisäkulares und Sopranöses auf der Musik-Biennale 1993  ■ Von Frank Hillberg

Nicht, daß keine Neue Musik gespielt würde, nein, es gibt sie öfter denn je. Allein, die Qualität der Darbietungen und die Stupidität der Programme legen zuweilen den Verdacht nahe, daß es sich mehrheitlich um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Musiker und Komponisten oder öffentlich gemachte Hausaufgaben von Dramaturgen handelt. Ein Festival hat daher zu kompensieren, was der regionale Konzertbetrieb nicht leisten kann oder will: Interpretationen, die ungefähr dem Notentext entsprechen, Stücke, die den Arbeitsaufwand (auch des Hörers) lohnen, und schließlich Programme, die solche Stücke unter einer Idee zusammenbinden. Alle zwei Jahre, der Name spricht es aus, meldet sich die Musik-Biennale Berlin, ein, so sagt es der Untertitel, „internationales Fest für zeitgenössische Musik“, um sich diesen Aufgaben zu stellen.

Aus der Welt des Sports: Yvar Mikhashoff spielt Conlon Nancarrows „Studies“. Nun sind Klavier- Etüden zwar eine Disziplin zur Pflege von Handikaps, per se aber nicht unspielbar. Anders die von Nancarrow geschriebenen oder besser gesagt gestanzten „Studies for Player Piano“. Die lochstreifenfressenden mechanischen Klaviere haben natürlich ganz andere Möglichkeiten als ein Pianist mit seiner natürlichen Beschränkung auf zehn Finger (wenn es um punktgenaues Spiel gehen soll), ein überaus langsames neuronales System und einen ziemlich schwachen motorischen Apparat. Ein Player Piano kann, wie in der „Study No. 3“, ohne weiteres die acht über die ganze Tastatur verteilten Stimmen dieses monströsen Boogie-Woogie runterfetzen. Kann Mikhashoff das auch? Daß er sich an das eigentlich Unmögliche ranmacht, zeugt jedenfalls von echtem Sportsmannsgeist (am 12.3., 22 Uhr im Schauspielhaus).

Um auf dem Musikmarkt als kultverdächtig gehandelt zu werden, empfiehlt sich ungefähr folgendes: a) gib keine Fotos in die Hände säkularisierender Medienhaie (vulgo Journalisten genannt), b) sei unzeitgemäß, c) verweigere Interviews, d) äußere dich nicht zu deinem Werk, e) begib dich an geschichtsträchtige Orte, und verlasse sie nie wieder. Das hat bei Giancinto Scelsi gewirkt (der jetzt obendrein noch den Verstorbenenbonus hat) und scheint auch bei Galina Ustwolskaja, die Leningrad (ja ja, natürlich: St. Petersburg) nie verlassen hat, zu fruchten. Noch etwas ist ganz hilfreich: f) schreibe starke Musik. Nun werden auch in Berlin einige von Ustwolskajas legendären Stücken der Öffentlichkeit hörbar gemacht. Neben zwei Klaviersonaten, die in die höchste Schadstoffklasse für Tasteninstrumente gehören und wirklich rabiat sind, der „Composition Nr. 1“ für die aparte Besetzung Piccoloflöte, Tuba und Klavier, wird die „Symphonie Nr. 4“ für den nicht minder ungewöhnlich symphonischen Apparat von Trompete, Tamtam (ein riesengroßer Gong), Klavier und Kontraalt (eine Art Frauenstimme) zelebriert. Barbara Kaiser dirigiert das Ensemble Forum Neue Musik am 15.3. um 22 im Schauspielhaus.

Ein Abend mit Sopran allein / Wird die süßeste Folter sein. Wer, bei der heiligen Cäcilia (zu der alle Kritiker um Gnade bitten), denkt sich solche Programme aus? Die Stiftung Warentest für Rezipientenforschung etwa – um die Leidensfähigkeit von Kunstkonsumenten zu ermitteln? Daß Kunst und Leiden untrennbar verknüpft sind (schon um sich von der Unterhaltungsbranche mit ihren süßen Wonnen abzuheben), darf als bekannt gelten. Aber daß der gewöhnliche Kunstliebhaber masochistisch veranlagt ist und ihm reine Qual zur reinen Lust gerät, gehört zur Klasse der Trugschlüsse.

Für Probanden auf der Suche nach dem wahren, leidenschaftlichen Coming-out sei der Termin genannt: Luisa Castellani singt und gestikuliert am 20.3. im Schauspielhaus um 20 Uhr.

Unter den insgesamt 25 Konzerten wird wohl jeder etwas finden, dem die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gänzlich egal ist. Manch gute Interpretationen stehen zu erwarten, einige interessante Stücke sind angeboten, und vielleicht zündet ja eine der annoncierten Uraufführungen – ein Blick in die Festivalbroschüre lohnt allemal. Sehr löblich ist das wohlfeile Angebot eines Festivalpasses zu 70 DeEmm.

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