: Ungestüm, unorthodox, entfesselt, aufmüpfig
■ Zwanzig Jahre nach Netzers Glücksschuß im Pokal gegen Köln: Eine Hommage an die „Fohlen“ Borussia Mönchengladbachs – von Holger Jenrich
Man konnte einst heulen vor Glück, wenn man sie sah. Günter Netzer, wie er den Ball ins gegnerische Netz zirkelte, nachdem er ihn zuvor ausgiebig liebkost hatte. Herbert Wimmer, wie er im Stil eines Sprint-Olympioniken und mit heruntergerollten Socken den Kalk an der Außenlinie aufspritzen ließ. Jürgen Wittkamp, wie er den lichten Schädel hinhielt, wenn in entscheidenden Europacup- Spielen nichts mehr ging. In den siebziger Jahren war eigentlich jeder Anhänger von Borussia Mönchengladbach.
Und wer's nicht war und zu den Bayern hielt, war irgendwie gestört.
Heute kann man vor Verzweiflung heulen, wenn man sie sieht. Statt Netzers übt sich ein Kastenmaier mehr schlecht als recht am angeschnittenen Freistoß. Seit der Pensionierung von „Hacki“ Wimmer und dem Verrat Calle del Hayes hat man am Niederrhein keinen Flankenflitzer und keinen Dribbelkönig mehr gesichtet. Und eines Feuerwehrmannes der Marke Wittkamp bedarf es am Bökelberg schon lange nicht mehr, weil Europas Fußballwettbewerbe zwar mit Hannover 96, aber ohne die Truppe von Bernd Krauss stattfinden.
In den neunziger Jahren ist eigentlich kaum noch jemand Anhänger von Borrussia Mönchengladbach. Man hält bequemerweise wieder zu den Bayern, und wer's nicht tut, ist irgendwie gestört.
Oder bis über alle Ohren verliebt und der überholten Ansicht, die Liaison mit der „launischen Diva“ (Gladbachs Ex-Manager und Memoirenschreiber Helmut Grashoff) sei erst dann beendet, wenn der Tod oder der Abstieg in die Niederungen der Amateurligen sie scheide. Mit merklichem Hang zum Masochismus und geübt in der schönen Kunst der Kopfhängerei fügen sich die hoffnungslosen Fälle in ihr bedauernswertes Schicksal. Sie akzeptieren mit Rolf Rüssmann einen Herrn als Manager, der zur Borussia paßt wie Chris de Burgh zu den Rolling Stones. Sie bejubeln einen schnöden 2:0-Erfolg über Schultes Schalker so frenetisch wie 1967 ein feierliches 11:0-Schützenfest über denselben Gegner. Und sie suchen in einer von trüber Durchschnittlichkeit gezeichneten Mannschaft verzweifelt nach Originalen und Idolen, nach Außenseitern und Stars.
Typen solchen Kalibers schienen einst in Gladbach auf die Welt zu kommen. Komiker wie Wolfgang Kleff, Reißer wie Jupp Heynckes, Ballettänzer wie Alan Simonsen, Glücksjungs wie Uwe Rahn waren das Kapital der Underdogs und der ganze Stolz des aufrechten Fußball-Deutschlands. In der Provinz des Niederrheins gediehen in einer Dekade mehr Lichtgestalten der Kick-Kunst als im ganzen Ruhrgebiet seit Einführung der Bundesliga.
Doch spätestens seit der bullige Günter Bruns seine Sportschuhe auszog, um mit denselben und anderer Fußballkleidung fürderhin sein Geld zu verdienen, gibt es keine Identifikationsfigur mehr in den Reihen der Grün-Weißen. Statt dessen zwei Dutzend mehr oder minder begabte Kicker, die man sich genauso gut in den Leibchen von Bayer Uerdingen oder in den Trikots von Waldhof Mannheim vorstellen könnte.
Sich die heutige Borussen-Elf mit Arbeitern wie Klinkert, Eichin, Schneider, Wynhoff anzusehen, führt beim Betrachter zu schwersten Depressionen, läßt er im Geiste gleichzeitig noch ein altes Gladbacher Team mit Künstlern wie Netzer, Stielike, Sieloff, Laumen auflaufen. Als Willy Brandt in Bonn mehr Demokratie zu wagen und die APO die miefige Spießerwelt der Bundesrepublik aus den Angeln zu heben versprachen, brachten die „Fohlen“ aus dem Stall des Trainer-Unikums Hennes Weisweiler die gesamte Sportwelt auf Trab.
Ungestüm und unorthodox, entfesselt und aufmüpfig verkörperte Borussia Mönchengladbach in exemplarischer Weise das Ideal der Protestgeneration, die „Phantasie an der Macht“ zu sehen verlangte. Ihr an Tausende von Wänden gesprühter Herzenswunsch war Weisweiler, Netzer, Vogts und Co. Befehl. Ehe ihre autonome Fraktion mit wehenden Piratenflaggen zum FC St.Pauli überlief, kürten Alt- und Neulinke die Borussen zu ihren Genossen, bejubelten sie Gladbachs Ausländerriege von Shmuel Rosenthal bis Ulrik le Fevre. Und huldigten dem langmähnigen Linksaußen Ewald Lienen, der sich in dem traditionell von schlichteren Gemütern denn Intelligenzbolzen dominierten Fußball-Gewerbe zeitweilig mehr gegen Berufsverbote und für die Friedensliste zu engagieren schien als für die UEFA-Cup-Qualifikation und den Bundesliga-Erfolg seines Arbeitgebers.
Willy Brandt ist tot, die Friedensliste abgewickelt, Ewald Lienen Fußball-Rentner. Doch die Erinnerung an die großen Spiele der Borussia ist lebendig wie eh und je. Selbst im Abstand von Jahrzehnten sind die Highlights der „Mönche“ noch fürwahr dialektische Vergnügungen, bittersüße Taumel zwischen Trauer und Traum. Gewonnen hat die Borussia viel seit Gründung der Bundesliga, fünfmal die Deutsche Meisterschaft, zweimal den UEFA- Cup, einmal den deutschen Pokal. Doch spektakulärer, legendärer, leuchtender als ihre vielen Siege sind ihre tragischen Niederlagen.
Das Elfmeterdrama von Everton, wo Luggi Müller angsterfüllt den letzten Strafstoß verschoß. Der Büchsenwurf vom Bökelberg und das Schauspieltalent Roberto Boninsegnas, die eine grandiose Gladbacher Mannschaft um ein furioses 7:1 gegen Inter Mailand brachten. Der Skandal von Madrid, wo Pfeifenmann van der Croft den Borussen zwei lupenreine Tore und das Weiterkommen im Meisterpokal verwehrte.
In diesem Jahr, wo es abermals gegen den drohenden Abstieg statt gegen Inter oder Real geht, macht sich die Borussia einmal mehr mit nostalgischer Verklärung Mut. Jährt sich doch zum 20. Mal jenes sagenumwobene 2:1 im DFB-Pokalfinale gegen den 1.FC Köln, das Kenner der Materie nicht müde werden, zum besten Fußballspiel aller Zeiten zu verklären.
Ich hab damals geheult, als ich sie sah. Günter Netzer, wie er zum Abschied den Ball nicht richtig und genau deshalb so fulminant zum Siegtor traf. Herbert Wimmer, wie er die Linie rauf und runter rannte, als sei er Marathonläufer. Und all die anderen von Bonhoff bis Jensen, von Kulik bis Rupp, von Sieloff bis Heynckes, die so gut spielten wie keine Mannschaft vor und keine nach ihnen.
Nicht nur, aber auch deshalb bin ich allen Stadlers und Neuns zum Trotz noch immer Anhänger von Borussia Mönchengladbach, ein konsequenter Bayern-Verächter – und irgendwie gestört.
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