: Politik und Verbrechen
Ein Essay zur Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR ■ Von Horst Meier
Eine Warnung vorweg: Leserinnen und Leser, deren Bedürfnis nach Bestätigung ihrer Ansichten größer ist als ihre Neugier, die mithin „einfach, direkt, moralisch, gefühlsmäßig“ zu politisieren belieben, werden in diesem kleinen Büchlein weder Trostquell noch Erbauungsliteratur finden. Klaus Lüderssen, seit 1971 an der Universität Frankfurt am Main, ist ein produktiver, dezidiert liberaler Rechtswissenschaftler, von dem sich lernen läßt, wie die Rationalitätspotentiale des Strafrechts ausgeschöpft werden können, ohne dieses zu idealisieren. In seiner neuesten Schrift zur DDR-Regierungskriminalität verwirft Lüderssen jedwede Art von Schlußstrich- Mentalität; Amnestiedebatten machen in der Tat erst Sinn, wenn die juristischen Fragen geklärt sind.
Wie weit erstreckt sich die Geltung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots zugunsten der Täter? Welche Taten sind verjährt? Kann das System der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ überhaupt nach Maßgabe rechtsstaatlicher Kriterien interpretiert werden? Gehören Direktiven der Staatspartei zu diesem Rechtssystem? Sind Wahlfälschungen und politische Verdächtigungen strafbar? Gab es für die Installation von Selbstschußanlagen und Minen eine Rechtsgrundlage? Ist das Grenzgesetz von 1982 eine Rechtfertigung für Schüsse am „antifaschistischen Schutzwall“? Was gilt für die Zeit vor Verabschiedung dieses Volkskammergesetzes? Kommt Völkerstrafrecht zum Zuge? Oder genießt Honecker als Staatsmann gar völkerrechtliche Immunität? Und was gilt für Folterungen im Gefängnis oder Spionage oder...?
Komplizierte Rechtsfragen lassen sich naturgemäß nicht in Gestalt einer leichten, essayistischen Skizze ausformulieren. Wer sich in einem Gelände orientieren will, das ohne Rechtskenntnisse nicht zu durchmessen ist, muß sich also der (lohnenden) Mühe unterziehen, der fein gesponnenen, zuweilen hermetischen Argumentation eines Gutachtens zu folgen, das nach allen Regeln des juristischen Handwerks auf 145 Seiten erstattet wird – hochgerüstet mit 216 Fußnoten und gefolgt von zusammenfassenden, dem „eiligen Leser“ empfohlenen Thesen.
Seine grundsätzliche Linie nennt Lüderssen die eines „restriktiven Positivismus“. Das ist keine glückliche Begriffsbildung (wirkt doch seine Unterscheidung zwischen „gutem“ und „totalem“ Positivismus konstruiert). Das Mäßigung signalisierende „restriktiv“ ist freilich verständlich in einem Land, wo man den Positivismus mal des „zersetzenden jüdischen Geistes“, mal der rechtstheoretischen Beihilfe zum Nationalsozialismus zieh. Deutsche Juristen, die positivistische Rechtsarbeit für sich reklamieren, bewegen sich noch immer hart am Rande der Selbstbezichtigung.
Der Sache nach ist Lüderssens Ansatz überzeugend. Ausgehend von den Weichenstellungen des Einigungsvertrags, nimmt er das System der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ ernst und beurteilt danach die Frage der Legalität. Für das viel diskutierte Beispiel der „Republikflucht“ bedeutet das: Jene Soldaten, die im Rahmen des Grenzgesetzes handelten, bleiben straflos; Exzeßtäter hingegen, die noch auf jene schossen, die ihren Fluchtversuch aufgegeben hatten, werden als Totschläger verurteilt. Dabei können sich die „Großen“ nicht darauf hinausreden, sie hätten das illegale Verhalten der „Kleinen“ nicht veranlaßt: Wer ausnahmslos jeden Mauerschützen mit Sonderurlaub und Blechorden belobigt, ist für den institutionalisierten Exzeß strafrechtlich verantwortlich.
Auf dieser Linie argumentiert das zweite Mauerschützenurteil vom 5.2.1992, während im ersten vom 20.1.1992 (und der Sache nach auch in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 3.11.1992) auf fragwürdige Weise mit der naturrechtlichen „Radbruch-Formel“ hantiert wird. Ihr zufolge suchen sich westdeutsche Juristen (auch fortschrittliche Vertreter der Zunft) heute aus, welches DDR- Gesetz sie „unerträglich“ finden und folglich als nicht geltend behandeln wollen: eine ihrerseits schwer erträgliche, moralisierende Rechtsverbiegung, die schlicht das Rückwirkungsverbot aushebelt.
Lüderssen liefert keine explizite Kritik der „Radbruch-Formel“, indes gute Argumente für eine positivistisch-rechtsstaatliche Alternative. Zu den nicht überzeugenden Passagen zählen dagegen seine Überlegungen „Prozesse gegen ,Sterbende‘“. Die Verfahrenseinstellung ist gewiß fällig, wenn ein Angeklagter verhandlungsunfähig ist, und mag angehen, wenn er das Urteil nicht mehr erleben wird; daß dies aber auch dann gelten soll, wenn Lebensalter und Strafmaß den Tod im Gefängnis erwarten lassen, ist eine fragwürdige Anleihe aus der alten Diskussion um die lebenslange Freiheitsstrafe und der neueren um Aidskranke im Strafverfahren.
Warum ausgerechnet denen, die im Getriebe der Bürokratie „übermäßigen“ Gehorsam bewiesen, diese Anpassungsbereitschaft als „Sozialisationsdefizit“ gutgeschrieben werden sollte, ist ebenfalls nicht plausibel. Die gesellschaftliche Erzeugung des moralisch indifferenten, funktionalen Menschen gehört zu den gefährlichsten Mechanismen moderner Regierungskriminalität.
Am Ende bleibt der Eindruck, selbst die innige Verflechtung von Politik und Verbrechen könne mit konventionellen strafrechtlichen Mitteln kleingearbeitet werden. Dabei gerät aus dem Blick, daß Strafrecht am allerwenigsten für die Kriminalität jener kodifiziert wurde, die es verstehen, sich mit Gesetzen und Verordnungen hochzurüsten. Staatlich organisierte Kriminalität führt Strafjustiz alsbald an die politischen Grenzen des Rechts. Daß die Maßstäbe der SED-Normen oft genug vor Strafe schützen, bleibt ein Skandal, wie die ungeschorenen DDR-Strafrichter belegen: Allein „Rechtsbeugung“ ist strafbar, nicht aber die Beugung durch Recht.
Dieser von Lüderssen ein wenig geglättete Widerspruch ist freilich kein Argument gegen seinen „restriktiven“ Positivismus. Im Gegenteil: Wer eine friedliche Verfassungsrevolution vom Zaun bricht und das Rückwirkungsverbot im Fall der SED-Täter (aus guten Gründen) nicht antasten will, beschert sich selbst die Qualen einer rechtsstaatlichen Abrechnungsbürokratie. Hier weiß Lüderssen guten Rat, der gewiß nicht nur enttäuschten Bürgerrechtlern gilt: „Das Strafbedürfnis muß sich mit allerlei abfinden.“
Klaus Lüderssen: „Der Staat geht unter – das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR“. edition suhrkamp, Frankfurt/M. 1992, 157 Seiten, 16Mark
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