: „Wenden Sie sich ans Volk“
■ Rußlands Werktätige schreiben an Boris Jelzin
Moskau (taz) – „Genug der Kompromisse, Boris Nikolajewitsch Jelzin. Ans Volk sollen Sie sich wenden!“ schrieben angeblich Tausende erboster Russen – Privatleute und ganze Arbeitskollektive – unmittelbar nach dem Aufstand des Volksdeputiertenkongresses an Rußlands Präsidenten. Sie wollen ihn entschlossen handeln sehen. Täglich erhält Jelzin 3.000 Briefe aus dem Volk. Die letzten Tage muß ihre Zahl um ein Vielfaches gestiegen sein, will man Präsidentensprecher Kostikow Glauben schenken. Auf eine kritische Zuschrift kommen demnach dreißig wohlwollende.
Dem wollte Jelzins Widersacher, Chasbulatow, natürlich nicht nachstehen. Auch er würde mit Unterstützerpost überflutet. Die genauen Zahlen handeln beide wie Geschäftsgeheimnisse. Geheimnis bleibt auch, wie die russische Post, die gewöhnlich mindestens eine Woche benötigt, um einen Brief aus der Provinz nach Moskau zu befördern, ihren Verteilerweg so kurzfristig hat rationalisieren können.
Wie es nun weitergehen soll, darüber herrscht Unklarheit an allen Fronten. Noch immer wird die Version aufrechterhalten, Jelzin werde sich persönlich in einer Fernsehansprache ans Volk wenden. Gleichzeitig sickerten aber Hinweise aus dem Präsidentenlager, Jelzin wolle nicht unbedingt an der Volksabstimmung festhalten: „In gewisser Weise gibt es schon eine Antwort auf die Frage, welche Regierungsform das Volk will“, meinte Kostikow mit Hinweis auf nicht näher spezifizierte Meinungsumfragen, die eine Präsidialdemokratie favorisierten. Ein Rückzugsgefecht? Womöglich. Denn man konnte schon vorher absehen, daß die lokalen Parlamente, die Ruslan Chasbulatow unterstützen, jeglichen Urnengang sabotieren würden.
Wie die Bevölkerung in den Provinzen denkt, ob sie sich von der Nomenklatura einschüchtern läßt oder deren Positionen teilt, ist für beide Seiten ein Unsicherheitsfaktor. Im nordrussischen Wologda begegneten elf Prozent der Bewohner den Vorgängen in Moskau gleichgültig. 27 Prozent unterstützen Jelzin, immerhin 17 seinen Gegenspieler Chasbulatow. Größte Zustimmung dagegen gewann die nihilistische Lösung: Fast ein Drittel meinte, Rußland könne aufatmen, wenn Präsident und Parlament sich aus der Politik verabschiedeten.
Geschlossen hinter dem Präsidenten stehen die Bergarbeiter aus Workuta und im sibirischen Kusbass. Allerdings hat die Popularität des Präsidenten im Kusbass gelitten. Die radikalen Kumpel werfen ihm vor, die alten Apparatschiks nicht hart genug angegangen zu haben.
Unterdessen holte der Vorsitzende der Verfassungskommission des Parlamentes, Oleg Rumjanzew, zu einem Generalangriff aus. Die politischen Führungen der über zwanzig autonomen Republiken auf dem Territorium der Russischen Föderation würden in eklatanter Weise die Verfassung verletzen. Schuldig daran seien „drei Institutionen: der Präsident, der Oberste Sowjet und die national- kommunistische Opposition“. So wurde dem Obersten Sowjet bescheinigt, daß er seiner Hauptaufgabe, die Implementierung der Konstitution in den Provinzen zu überwachen, nicht nachgekommen sei. Die Kompromißlosigkeit der Nationalkommunisten auf dem Kongreß, die nichts anderes als Rußlands Einheit auf den Lippen führen, begünstige gerade Tendenzen eines drohenden Bruches mit den Subjekten der Föderation: „Die kommunistisch- patriotische Opposition hat alles in ihrer Macht stehende getan, um die Verfassungsreform auf der föderativen Ebene zu behindern, bis die Regionen und Republiken des Wartens überdrüssig werden.“
Die blutspuckende Zeitung „djen“ der nationalpatriotischen Ultras veröffentlichte gestern ein Interview mit einem namhaften Rocktheoretiker. Demnach befürworten Rußlands Rocker als einzige Regierungsform die Monarchie. Jelzins Demokraten fehle es an Symbolen des Sakralen und symmetrischer Schönheit. Klaus-Helge Donath
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