Zwischen tausend Spiegeln

■ Ortsbesichtigung: Meret Becker eröffnet die Saison der „Bar jeder Vernunft“

Am schönsten war es in einer lauen Sommernacht im August. Von den merkantilen Wirrungen des Kudamms übersättigt, flüchtete ich in eine düstere Seitenstraße, tastete mich durch den finsteren Pappelwald an der Freien Volksbühne, und erwartete doch nur ein wenig Kurzweil im Nachtsalon des Spiegelzelts. Aber dann war es nicht weniger als ein Traum. Ganz still und verzaubert saßen die Gäste der „Bar jeder Vernunft“ im schummrigen Kerzenlicht des Kreisrunds, kein Stuhl wurde gerückt, kein noch so leises Raunen gedanklich abschweifender Besucher störte den Kunstgenuß. Max Raabe gab Otto Reutter – a capella und so durchdringend leise, daß es nur eine Vision sein konnte.

Wenn im Spiegelpalast plötzlich der Strom ausfällt, ist das kein Mißgeschick, in der zauberhaften Atmosphäre des alten Zeltes wird selbst die technische Panne zum Kunstgriff. Überhaupt haben die beiden Betreiber dieser Nachtbar, Lutz Deisinger und Volker Klotzbach, ein Händchen für Stimmungen, für noch nicht entdeckte Kleinkunst-Talente und für das gewisse Extra, das aus einem schönen Abend eine unvergeßliche Nacht werden läßt. Seit dem vergangenen Jahr ist ihre „Bar jeder Vernunft“ der Geheimtip für Berliner Nachtschwärmer. Zunächst vor allem Stammbar für das Theater-Ensemble der Freien Volksbühne und der nahegelegenen Schaubühne, gab sich bald die Lokalprominenz hier Abend für Abend ein Stelldichein. Man begutachtete die schönen Räume, goutierte die schmackhafte Gastronomie des Florian und bestaunte die jungen Kunsttalente, mit denen Deisinger und Klotzbach ihr fachkundiges Publikum ein ums andere Mal verzauberten.

Nach viermonatiger Spielpause ist nun seit dem vergangenen Wochenende der Winter in der Schaperstraße endlich vorbei. Die Saison 93 eröffnete Meret Becker, Shooting-Star der letzten Spielzeit, und eine der wenigen Entdeckungen des Berliner Nachtlebens. „Tabernac - Noten, Flügel, unerhörte Seufzer“ heißt ihr neues Programm, in dem sie gemeinsam mit Oliver Groszer, Tilmann Lehnert und Rolf Hammermüller mit traumwandlerischer Sicherheit durch die verschiedenen Sparten des Kleinkunstgewerbes wandelt.

Der junger Berliner Jongleur Groszer, Preisträger des Pariser Zirkusfestivals „Cirque de demain“, wirbelt brennende Keulen durch die stickige Zeltluft, jongliert mit bunten Bällen und mit jenen seltsamen Wortfetzen, die Tilmann Lehnert, nach eigenem Bekunden „postdadaistischer Dichter-Schauspieler“, ihm ein ums andere Mal zuwirft. Meret Becker leiht ihnen und uns dazu ihre einzigartige Stimme, steht mal schüchtern im Hintergrund, mal lüstern auf Rolf Hammermüllers Klavier. Dann wieder brilliert die Sängerin mit einer atemberaubenden Ganzkörper-Hula-Hoop- Nummer, Oliver Groszer beteiligt sich plötzlich an einem Duett und Tilmann Lehnert – von Becker und Groszer in einen Dinosaurier verwandelt — verschwindet unter der Zirkuskuppel.

Die Kunst von „Tabernac“ besteht vor allem aus dieser seltenen (und zuweilen seltsamen) Mischung, mit der die vier – allesamt Meister in ihrem Fach – die Genres miteinander vermischen, verknoten, ja verzwirbeln. Hier kommt alles zu allem, Zirkus und Gesang, Varieté und Kabarett. Und doch ersparen die vier ihrem Publikum jene Mainstream-Dramaturgie, mit der im Wintergarten an der Potsdamer Straße die Kleinkunstperlen aneinandergereiht werden. Keine Überleitungen, keine epischen Verstrickungen lenken davon ab, daß hier nicht mehr – aber auch niemals weniger! – als artistische Vitalität gezeigt wird. Ein Sinn-Salat der Extra-Klasse, der wohl nirgendwo besser aufgehoben sein könnte, als zwischen den tausenden Spiegeln der „Bar jeder Vernunft“. Klaudia Brunst

Mi-So um 20.30 Uhr in der „Bar jeder Vernunft“