: Jelzins Kabinettstück erster Güte
Rußlands Präsident hat die angekündigten Dekrete zur Präsidialherrschaft offenbar noch nicht unterzeichnet/ Gegner überlistet/ Gute Chancen für Referendum ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Moskaus Politdramaturgen haben es einfach. Aufmerksamkeit ist ihnen immer gewiß. Gebannt schaut die Weltöffentlichkeit zu. Egal, wie erbärmlich auch immer ihre Darbietungen sein mögen. Jelzins sonnabendlicher Auftritt vor dem Fernsehvolk, seine Absichtserklärung, er wolle das Land mit „außerordentlichen Maßnahmen“ regieren, sticht heraus aus dem sonst mediokren Spielplan. Die Schauspieler erschienen wie immer, im Glauben vorzuführen. Nur — diesmal wurden sie vorgeführt — und das gleich zuhauf.
Die eiligst zusammengerufene Notsitzung des Obersten Sowjets glich einem absurden Theater. Man verhandelte über ein Impeachment des Präsidenten, warf ihm verfassungswidriges Verhalten und Putschgelüste vor. Allen voran die tragenden Charaktere des Stückes: Parlamentsvorsitzender Ruslan Imranowitsch Chasbulatow, Viktor Sorkin in der Rolle des höchsten Verfassungsrichters und der tugendhafte Alexander Rutskoi in seiner Funktion als noch amtierender Vizepräsident. Sie alle waren sich in einem sicher: Der Präsident hat seine Kompetenzen überschritten. Seine Berater müßten gerichtlich belangt werden, verlangte Rutskoi. Während der Aufführung wurde ihm schlagartig klar: Halt! Wir sind auf der falschen Bühne. Keiner von ihnen kannte nämlich das Skript.
Noch liegt Jelzins Erklärung zur Präsidialherrschaft nicht vor. Womöglich wurde sie noch gar nicht unterzeichnet. Vizepremier Schumeiko sprach erst von einem Entwurf, der beim Präsident läge. Ebensowenig ließen sich die Dekrete auftreiben, die die geplanten Maßnahmen im einzelnen konkretisieren. So ergab sich die peinliche Situation. Die übereifrige Legislative war ihrer eigenen Projektion aufgesessen. Sie war ihrem minutiös entworfenen Spielplan gefolgt. Und der sah viel härtere Schritte des Präsidenten vor. Die Suspendierung und Auflösung der Legislative, das Verbot bestimmter Massenmedien, Einschränkungen des Sammlungs- und Demonstrationsrechts. Obwohl Jelzin ausdrücklich betont hatte, weder etwas gegen die Gesetzgeber zu unternehmen noch die bürgerlichen Freiheiten zu beschneiden. Außerdem versicherte er die absolute Neutralität der Armee und Sicherheitskräfte. Kurzum: ein atypisches Putschszenario.
Unterdessen nutzten die Juristen des Präsidentenapparates die Hinweise aus der Debatte, um den verfassungsrechtlichen Bedenken des Obersten Sowjets und Valerie Sorkins im endgültigen Entwurf Rechnung zu tragen. Die Präsidentenberater haben endlich einmal ganze Arbeit geleistet. Juristisch, so scheint es, ist die Unternehmung hieb- und stichfest. Und auch die Taktik war geschickt. Immerhin hatte sich Jelzin dafür eine Woche Zeit gelassen. Anders als die Opposition, die auf sofortige Liquidierung aus war. Sie hat sich jetzt selbst ausmanövriert. Fraglich ist, ob der großschnäuzig einberufene Volksdeputiertenkongreß überhaupt stattfinden wird. Sollte er es dennoch, wird er sich vom Volk die Quittung holen. Er kostet ein Heidengeld. Der Souverän hat dafür nur wenig Verständnis. Jelzins Position für sein Plebiszit zur Vertrauensfrage würde das nur Auftrieb verleihen.
In der Sekunde der Erkenntnis erahnten die Betroffenen schon ihr politisches Todesurteil. Ruslan Chasbulatow verriet sich, indem er dem herbeizitierten Verteidigungsminister Gratschow an den Kopf warf: „Bitte nicht mehr solche zahnlosen Reden, vage und nichtssagend. Es ist nicht klar, wen Sie unterstützen.“ Die Verfassung natürlich. Daran hatte Gratschow keinen Zweifel gelassen. Doch diese läßt sich unterschiedlich interpretieren.
Der brave Soldat Rutskoi machte sofort einen Rückzieher. Natürlich habe der Präsident das Recht, sein Referendum abzuhalten. Am Vorabend hatte der „Theoretiker des Bürgerkrieges“ noch ganz anders geklungen. Nur das Gewissen der Nation, Verfassungsrichter Sorkin, blieb dem Publikum noch eine Antwort schuldig: Wie kann ein Jurist einen Nichttatbestand zum Anlaß nehmen, einen eventuell späterhin „Straffälligen“ präventiv abzuurteilen? Solche Schnitzer erlaubte sich nicht einmal die Sowjetjustiz.
Für Überraschung sorgte auch die geschlossene Phalanx des Kabinetts, einschließlich Premierminister Tschernomyrdin. Ihn wollte Chasbulatow auf seine Seite ziehen. Die Chancen standen nicht schlecht, als der Premier im Dezember vom Kongreß als einer der ihren in die Regierung forciert wurde. Die Rechnung ging nicht auf. Ihm hatte man die Aufgabe des Bremsers zugedacht, der die Privatisierung zum Erliegen bringen sollte. Auch hier hat sich Chasbulatow getäuscht.
Unabhängig davon, wie die Fronten in den nächsten Tagen noch verlaufen: Jelzins Referendum findet wohl statt, und die widerspenstige Legislative kann sich auf ihre Einäscherung vorbereiten. In der Provinz herrscht Ruhe. In Kusbass und in Workuta drohen die Bergarbeiter mit Streik, sollte das Parlament keine Ruhe geben. Mit Ausnahme zweier Republiken und des Gouverneurs von Wladiwostok übten die Provinzen keine Kritik an Jelzins Vorgehen.
Am Sonntag verschied Jelzins Mutter im Alter von 85 Jahren. Die Mütter in Rußland geben bekanntlich das Letzte für ihre Söhne. Das Volk trauert mit Jelzin in diesen schweren Tagen...
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen