: Lust auf Sex und Neugier auf das Abenteuer
■ Auf den Strich führen viele unterschiedliche Wege/ Mit der Selbsthilfegruppe „quer-strich“ wollen Callboys und Stricher die Solidarität untereinander fördern
Berlin. „Fasziniert hat mich das Thema immer. Meine erste Seminararbeit war zum Thema Prostitution“, erklärt Bruno und legt die schmalen Hände vor sich auf die Tischplatte. Dann sei ein Bekannter anschaffen gegangen, „und ich bin zuerst auf die Barrikaden gestiegen“. Aber schließlich gab er selbst eine Annonce auf und konnte auch bald von dem, was er als Callboy verdiente, leben. „Und ich muß sagen, daß ich mich gut dabei fühle. Es hat zwar auch problematische Seiten, aber welcher Beruf hat das nicht?“ Auffällig an Bruno sind zunächst seine beiden doppelten Ohrringe, wer aber genau hinsieht, entdeckt auch, daß die Lederhose maßgeschneidert und das cremefarbene Hemd aus Seide ist. Außer Bruno sitzen noch Jörg, Hans und Thomas am achteckigen Tisch im vierten Stock des Altbaus unweit vom Ku'damm, in dem die Aidshilfe ihr Domizil hat. Thomas hat im März letzten Jahres „quer-strich“, eine Selbsthilfeorganisation für Stricher und Callboys, ins Leben gerufen. Zusammen mit den Kolleginnen der Hurenorganisation Hydra will „quer- strich“ eine Anerkennung der Prostitution als Dienstleistungsberuf erreichen. Warum sich die Stricher und Callboys erst jetzt organisiert haben? Thomas zuckt mit den Achseln: „Auf dem Strich waren viele Themen tabuisiert, und so ist die Diskussion erst jetzt entstanden.“ Vor einem Jahr hat Thomas alle Callboys, die im Tip inserierten, angerufen und zu einem Treffen eingeladen. Reaktionen kamen nur von den Schwulen. Außer mit Hydra arbeitet „quer-strich“ mit dem Schwulenverband zusammen.
Bruno ist unter anderem deshalb auf seinen Beruf gekommen, weil sein erster Langzeitfreund ihm bestätigt hat, daß er ihn gut „initiiert“ hat. Und er habe Talent zu seinem Beruf, würden ihm die Freier bestätigen. Ganz anders war der Einstieg bei Hans, der von sexuellen Praktiken keine Ahnung hatte, als ihn ein Bekannter vor zehn Jahren mit auf den Strich nahm. Sexuelle Bedürfnisse und der Wunsch nach einem Beruf mit freier Zeiteinteilung waren für ihn damals ausschlaggebend. „Der Einstieg auf den Strich ist niedrigschwelliger“, meint er. Dabei war ihm zu dem Zeitpunkt nicht einmal klar, daß er selbst schwul ist. Gepflegt und elegant gekleidet mit seinem gelben Hemd, der grünen Weste und dem dunkelgrauen langen Mantel, entspricht er nicht dem Klischee eines heruntergekommenen Strichers.
Mehrere Jahre hat Hans in Süddeutschland zugebracht, wo er auch seine Stricherlaufbahn begann. Hans ist drogensüchtig und mußte sich deshalb auch auf die schlechten Bedingungen, unter denen mittlerweile am Bahnhof Zoo angeschafft wird, einlassen. Eine Nummer unter hundert Mark – das hätte er sonst nicht gemacht. Mittlerweile nimmt er an einem Substitutionsprogramm teil. Weil sein Drang nach Heroin dadurch „ruhiggestellt“ ist, hat er die Chance, über sein bisheriges Leben nachzudenken, wie er sagt.
Eine rechtliche Anerkennung der Prostitution würde die Gewaltkriminalität auf dem Strich entscheidend verringern, das meint nicht nur Hans. Gegen die harte Konkurrenz der Gruppen untereinander würde eine Legalisierung der Prostitution allein allerdings nicht helfen. „In der Szene selbst muß etwas passieren“, findet Hans. Was genau, ist ihm auch nicht klar. „Eine Solidarisierung, mehr Kommunikation untereinander...“ Die Organisation quer- strich könnte seiner Ansicht nach entscheidend dazu beitragen.
Genau wie Hans hatte auch Jörg sein Coming-out erst während seiner Stricherlaufbahn. Er hat hautnah miterlebt, wie sich die Szene in Berlin geändert hat. Nach dem Mauerfall hat es durch die Konkurrenz der Polen und Rumänen einen enormen Preisverfall am Bahnhof Zoo gegeben. Von den Kneipen, in denen Stricher ihre sexuellen Dienstleistungen anbieten, weiß er, daß dort manchmal „Schutzgelder“ von Dritten erpreßt werden. Auch auf dem Strich gibt es hin und wieder Zuhälterei. Mittlerweile ist Jörg ausgestiegen und arbeitet als Kraftfahrer.
Der einzige, der sowohl auf dem Strich als auch per Annonce gearbeitet hat, ist Thomas. Er will die unterschiedlichen Arbeitsweisen nicht gegeneinander ausspielen. „Das sind verschiedene Facetten des Berufs: am Bahnhof, in den Kneipen, in Clubs und als Callboy.“ Obwohl es so etwas wie eine heimliche Hierarchie vielleicht doch gibt. Von Callboys wird erwartet, daß sie qualifizierter arbeiten. Dafür können sie auch länger im Beruf bleiben, wenn sie sich auf dominante Techniken oder Fetischismus spezialisiert haben, sogar bis zum Alter von 45. Wo mann die notwendigen Fertigkeiten lernen kann? Bruno hat sie sich im Laufe der Jahre angeeignet. Es sollte seiner Ansicht nach allerdings regelrechte Weiterbildungskurse für Callboys geben, so wie „quer-strich“ sie hin und wieder anbietet. Und Einführung in Sex- Praktiken sollte es nicht nur für Stricher und Callboys geben, findet er. „quer-strich“ bietet jeden letzten Montag im Monat ein offenes Treffen an, zu dem alle Interessierten eingeladen sind. Darüber hinaus arbeiten etwa zehn „quer- stricher“ intensiv an Projekten mit wie der Vorbereitung auf den „Europride“, den europaweiten Christopher Street Day dieses Jahr in Berlin und an einer Initiative gegen die geplante Neufassung des Paragraphen 182, der das sexuelle Schutzalter festschreibt.
Was die Callboys und Stricher an ihrem Beruf reizt? „Neugier, Lust auf Sex, Abenteuer und ein freies Leben außerhalb gesellschaftlicher Normen.“ Anne-Kathrin Koppetsch
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