: Unter den Chemie-Standorten brodeln die Gifte
Serie: Die Last mit den Altlasten (dritte Folge)/ In Ostberlin werden die Grundstücke der ehemals volkseigenen Betriebe Kali-Chemie und Berlin-Chemie untersucht/ Riesenflächen von zusammen über 500.000 Quadratmetern sind beispiellos verseucht ■ Von Thomas Knauf
Bei dem Rundgang über das Grundstück des ehemaligen VEB Kali-Chemie an der Schnellerstraße (Niederschöneweide) prallt der Besucher an einer Stelle unwillkürlich zurück. Das ist da, wo am Fuße der großen Abraumhalde Loren einer Werksbahn vor sich hin rosten. „Zyanid“ steht mit Pinselstrichen auf einer. Das hochgiftige Blausäure-Salz fiel in großen Mengen bei der Farbenherstellung an und landete wie andere Restprodukte auf der Halde, erzählt Curt Fahrenhorst von der Umweltberatungsfirma BFUB.
Im Auftrage des Senats hat Fahrenhorst zusammen mit anderen Experten der Beratungsfirma die Industriegeschichte des 142.000 Quadratmeter großen Standorts dokumentiert. Anhand der Ergebnisse von gezielten Boden- und Grundwasseruntersuchungen soll noch in diesem Jahr ein Sanierungskonzept für das Grundstück vorgelegt werden. Momentan bereitet man schon die Ausschreibung für Fachunternehmen vor, die die Aufgabe übernehmen könnten. Bereits nach dem TUBA-Bewertungsschema war der Fläche die höchste Sanierungspriorität eingeräumt worden – es gab wegen der vermuteten Gefahr für das Grundwasser 842 von 960 möglichen Punkten. Rastermäßig angelegte Brunnenbohrungen bis in eine Tiefe von 20 Metern bestätigten inzwischen: Fast flächendeckend ist das Gelände mit Cyaniden, den Schwermetallen Arsen und Quecksilber sowie polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) verseucht. In bestimmten Bereichen finden sich im Grundwasser besorgniserregende Cyanidkonzentrationen. Wie weit die Schadstoffe schon zu den nur etwa 500 Meter vom Gelände entfernten Brunnen des Wasserwerks Johannisthal vorgedrungen sind, wird noch erkundet. Die Fachleute wissen auch noch nicht genau, wie lange das verunreinigte Schichtenwasser braucht, um bis zum Wasserwerk zu kommen. Dies sollen wasserwirtschaftliche Modellrechnungen am Computer ergeben.
63 Flächen unter der Lupe
Die BFUB ist nur einer von acht sogenannten Projektträgern, welche bei der Untersuchung der industriellen Altlastenstandorte des Ostteils im Senatsauftrag koordinierend tätig sind. Derzeit betreut man im Projektgebiet Niederschöneweide insgesamt 63 Verdachtsflächen. Bis die Flächen frei von Altlasten an den Eigentümer oder einen neuen Investor übergeben werden können, dürfte viel Zeit ins Land gehen. Beim Standort des VEB Kali-Chemie bedurfte es so eines planerischen Vorlaufs von rund anderthalb Jahren bis zur Vorlage von ersten detaillierten Untersuchungsergebnissen.
Zunächst war rein gar nichts über die frühere industrielle Nutzung des Geländes bekannt. Ohne genaue Kenntnis der Anlagen und der einst eingesetzten Stoffe konnte aber die Altlastensuche nicht beginnen. In einem ersten Rechercheschritt wurden alte Werksangehörige befragt, die sich noch an frühere Produktionszeiten erinnern konnten. BFUB-Mitarbeiter beschafften englische Luftbilder, die zeigen, daß alliierte Bomben die Chemieanlagen zu zwei Dritteln zerstörten. Dann hieß es, sich durch die Archive zu graben: Aus dickleibigen Folianten und Stapeln von vergilbten Bauakten schälte sich langsam die 120jährige Geschichte der Chemiefabrik heraus.
Giftiges „Berliner Blau“
Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mußte der Chemiker Dr. Kunheim seine Betriebe aus Kreuzberg verlagern, weil die sich durch das schnell wachsende Häusermeer nicht mehr vergrößern ließen und es dort außerdem Beschwerden aus der Bevölkerung über unangenehme Gasgerüche gab. Zusammen mit einem Kompagnon gründete Kunheim auf dem Niederschöneweider Grundstück, das damals noch „bei“ Berlin lag, zunächst als Zweigbetrieb die chemische Fabrik „Kanne“. Am neuen Standort begann Kunheim mit der Produktion von Schwefelsäure und flüssigem Ammoniak, ein wichtiger Stoff zur Herstellung künstlicher Düngemittel. Weiter stellte er neben anderem aus allen möglichen Knochenextrakten chlorsaures Kali und auch schon, wie es noch bis in unsere Tage geschah, blaue Cyanidfarbe her – das bekannte „Berliner Blau“. Die Zahl der Mitarbeiter in Niederschöneweide wuchs alsbald auf immerhin 400.
Umweltauflagen der Behörden scherten den Fabrikanten kaum, wie ein aufgestöbertes Schreiben des königlichen Regierungspräsidenten zu Potsdam aus dem Jahr 1900 belegt. Danach hatte sich die Umweltbelastung durch die Verlagerung der Chemieproduktion nach Niederschöneweide nicht verringert. In dem Schreiben werden Schäden an königlichen Forsten erwähnt. Auch habe Kunheim die Zusage, schädliche Gasausströmungen zu vermeiden, nicht eingehalten. Hintergrund: Besonders beim Ausschiffen von Gasfässern am Ladeplatz der Fabrik bildeten sich speziell bei feuchtem Wetter immer wieder weiße Nebelschwaden aus Chlorammonium, die bei Bewohnern des rechten Spreeufers einen starken Hustenreiz hervorriefen. Ebenso gab es Klagen über Schwefelsäuredämpfe und den Gestank des Spreewassers infolge des Einleitens von Chemikalien. Produziert wurde die Schwefelsäure bis 1960. BFUB- Mitarbeiter Fahrenhorst: „Daher kommt die Arsenbelastung.“ Jetzt sei auch klar, daß Bleiverunreinigungen nördlich des Britzer Zweigkanals aus der Zeit vor dem Kanalbau 1906 stammten. Die Herkunft des Bleis ist leicht erklärbar: In der „Kanne“-Fabrik existierte zur Schwefelsäuregewinnung ein System von bis zu 20 Meter langen Bleikammern. Andere „wohlfeilere“ Metalle wären durch die heiße Säure angegriffen worden, ist einer zeitgenössischen Abhandlung über die Kunheimsche Chemiebude zu entnehmen. Eine Neutralisationsanlage zur Aufbereitung von Produktions- und Spülwassern erhielt der spätere DDR-Staatsbetrieb erst in den sechziger Jahren, als die Fabrikation von Lacken und Pigmentfarben überwog. Ende 1990 kam für die rund 800 Beschäftigten das „Aus“. Zu den letzten Firmenaufträgen gehörte, die ziemlich preiswerte Rostschutzfarbe Eisenoxid- Gelb nach Rußland zu liefern.
Etliche der arbeitslosen Chemiearbeiter können allerdings mit einer Wiederbeschäftigung irgendwann in der Zukunft rechnen. Ein 55.000 Quadratmeter großer Teil des Geländes der aus dem ehemaligen VEB Kali-Chemie hervorgangenen Lacke und Farben AG (Lacufa) wurde zum 1. Mai 1992 von der Treuhand an ein Konsortium verkauft. Ihm gehören laut der Treuhand die Deutschen Amphibolin-Werke (DAW) in Darmstadt und die Lankwitzer Lackfabrik GmbH & Co. KG aus Berlin an. Innerhalb von fünf Jahren wollten die Käufer 50 Millionen DM investieren und 525 Chemiearbeitsplätze erhalten, teilte die Treuhand frohgemut mit. 60 Chemiewerker bekamen bereits vor einem Jahr wieder etwas an ihrer einstigen Arbeitsstätte zu tun. Von einer Beschäftigungsgesellschaft des Landes Berlin und der IG Chemie mit ABM-Verträgen angestellt, sollte die Truppe die museumsreifen Fabrikationsanlagen demontieren. Aller Voraussicht nach werden die Abrißarbeiten ab dem 1. April auf dem restlichen, nicht verkauften Geländeteil weitergehen, so Dieter Berge von der Treuhand-Vermögensverwaltungsgesellschaft Lacke und Farben (LAVW). Der Treuhand-Beauftragte wollte jedoch nicht ausschließen, daß der ABM-Stopp die Pläne über den Haufen wirft. In dem Fall steht in den Sternen, wann die schwer verseuchte Bodenfläche saniert wird.
Lasten der Vergangenheit
Als „Altlasten“ werden gemeinhin bestimmte Flächen mit Verunreinigungen im Boden oder im Untergrund bezeichnet, die in der Vergangenheit begründet sind und die menschliche Gesundheit, Umwelt oder sonst die öffentliche Sicherheit gefährden oder stören. So die Definition. Man unterscheidet „Altablagerungen“ und „Altstandorte“. Ein solcher ist im Ostteil zweifelsohne auch das 400.000 Quadratmeter große Grundstück in Adlershof, auf dem der ehemalige VEB Berlin-Chemie seinen Stammsitz hat. Die auf dem Gelände seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hergestellte Palette von Stoffen – Labor- und Industriechemikalien, Gaskampfstoff (vor und während des Ersten Weltkriegs), Pharmazeutika und verschiedene organische Pflanzenschutzmittel nach 1945 – verunreinigten großflächig den Boden und das Grundwasser. Deshalb wird eine Sanierung vorbereitet.
Doch gibt es noch andere, personelle, Altlasten, die drücken: Stasi- und Ex-SED-Seilschaften an der Spitze des zur Aktiengesellschaft mutierten VEB. Über sie kursieren an der Beschäftigtenbasis deftige Flugblätter. In einem wird dem erhalten gebliebenen Vorstands-„Genossen“ G. ironisch gedankt: Für die Vernichtung von Arbeitsplätzen und für seine „beispiellose Inkompetenz auf fast allen Gebieten“, die er schon zu real-sozialistischen Zeiten verwaltete. Gemeinsam mit dem inzwischen fürstlich abgefundenen ehemaligen Betriebsdirektor S., einem „Stasi-Spitzel“, habe G. durch das Abenteuer „Sparte Chemie“ dem Unternehmen Verluste in Millionenhöhe beschert, heißt es auf deutsch und italienisch. Italienisch deshalb, weil die Berlin- Chemie im September letzten Jahres von der Treuhand an den italienischen Pharmakonzern Menarini mit Sitz in Florenz verkauft wurde.
Die Italiener entschieden sich zum Kauf des Ostbetriebs, nachdem sich das Land Berlin und das Bundesfinanzministerium über die anteilige Übernahme der Kosten der Altlastenbeseitigung geeinigt hatten. Vorsichtig geschätzt, wird die Bodensanierung der Berliner Standorte der Chemie AG dreistellige Millionenbeträge kosten. In Adlershof, so Jens Naumann von der Umweltverwaltung, ließen sich bei den ersten Untersuchungen bis in eine Tiefe von rund 90 Metern das Schädlingsbekämpfungsmittel DDT und der Pflanzenschutzmittelwirkstoff Hexachlorcyclohexan (HCH), besser als „Lindan“ bekannt, nachweisen. Die Richtwerte der Berliner Schadstoffliste seien maximal um das 12.000fache überschritten. Im Grundwasser finden sich außerdem die unter Krebsverdacht stehenden polychlorierten Biphenyle (PCB), Bromide, Phenole, Ammonium und andere schwer abbaubare Stickstoffverbindungen.
Grenzwerte 12.000fach überschritten
Darüber hinaus liegen auf dem Grunde des Teltowkanals zwischen Rudow und Grünau große Mengen an Giftstoffen, weil zu DDR-Zeiten Produktionsrückstände eingeleitet wurden. An den Anfang der achtziger Jahre eingezogenen Grenzbarrieren entstand eine halbmeterdicke Schlammschicht, in der sich diverse Schwermetalle, HCH-Pestide und das DDT anlagerten. Den Verantwortlichen in Adlershof und auf den Sesseln des DDR-Chemieministeriums waren die Umweltfolgen offenbar gleichgültig: Laut Angaben der Wasserbehörde beim Umweltsenator leitete die Berlin-Chemie von 1958 bis zur Wende 1989 täglich im Durchschnitt 3.000 Kubikmeter verseuchter Abwässer in den Teltowkanal (nach der Wende waren es noch 600 Kubikmeter).
Insbesondere die unzureichende Entsorgung der Produktionsabwässer veranlaßte auch Wissenschaftler des TU-Instituts für Technischen Umweltschutz, den Adlershofer Standort einmal näher bezüglich seines Gefährdungspotentials zu untersuchen. Jährlich drangen aus den Sickerwasserteichen im Schnitt allein fast 75 Kilogramm des giftigen und biologisch nicht abbaubaren Chlorkohlenwasserstoffs HCH in den Boden und damit ins Grundwasser. Noch bis 1974 seien chemische Abwässer in Sickerteiche geflossen, so die Wissenschaftler.
Daß derartige Umweltsünden der Vergangenheit publik werden, ist den zur Marktwirtschaft konvertierten alten Kadern der Berlin- Chemie heute unangenehm. Den TU-Forschern wurden brieflich juristische Konsequenzen angedroht, falls sie nicht von der Veröffentlichung ihrer Untersuchungsergebnisse in einer Fachzeitschrift absähen. Gern wird erzählt, wie sehr man sich bereits früher für den Umstieg auf umweltverträglichere Stoffe ins Zeug legte. Dies sei so weit gegangen, daß man trotz bestehender Lieferverpflichtungen aus eigenem Antrieb aufgehört habe, daß luftbelastende Halon- Feuerlöschmittel Chlorbrommethan (CBM) herzustellen, berichtet die Hausjuristin Ingeborg Ernst. Daraufhin habe das Vertragsgericht den Chemiebetrieb in der zweiten Instanz dazu verurteilt, an den Kooperationspartner, das Feuerlöschgerätewerk Neuruppin, „mehrere Millionen DDR- Mark Schadenersatz“ zu zahlen.
„Auf Biegen und Brechen“ habe man schließlich vor der letzten Gerichtsinstanz die Stillegung der CBM-Produktionsanlage durchsetzen können, sagt die Hausjuristin. Nach ihren Worten beschäftigten sich die Werksoberen zu DDR-Zeiten „insgeheim“ auch mit dem Aufbau einer biologisch-chemischen Abwasserreinigung. Indes war der Anlagenbau von der staatlichen Gewässeraufsicht zur Auflage gemacht worden, wie der Umweltschutzbeauftragte der Berlin-Chemie, Eckart Clausnitzer, bestätigte. Clausnitzer muß es wissen: Er war zuletzt stellvertretender DDR-Umweltminister. Inzwischen hat sich die teure Biokläranlage erübrigt. Einfacher Grund: Die wichtigste Emissionsquelle ist weggefallen. Zum Ende des letzten Jahres verfügten die italienischen Konzernherren die Einstellung der verlustbringenden Synthese von chemischen Stoffen, aus denen ehedem etwa das Antibiotikum Chlorampenicol fabriziert wurde.
Neuanfang mit weniger Schmutz
Die Italiener lassen in Berlin nur noch Pillen und Zäpfchen aus angelieferten Fertigprodukten konfektionieren. Jetzt fallen am Tag nur noch höchstens 50 Kubikmeter wenig belasteter Abwässer an. Sie können demnächst nach einer Vorreinigung über Schmutzwasserkanäle zum Klärwerk Waßmannsdorf geleitet werden. Um der Indirekteinleiter-Verordnung zu entsprechen, wird das betriebsinterne Abwassersystem gegenwärtig umgerüstet. Statt durch am Boden liegenden Rinnen sollen die Abwasserströme über Rohrbrücken zusammenlaufen. Reinigen will der Betrieb das Wasser durch Aktivkohlefilter oder auf dem Wege der sogenannten Naßoxidation. Bei dem Verfahren werden Schadstoffe so mineralisiert, daß sie dann leicht von einer städtischen Kläranlage biologisch abbaubar sind. Währenddessen dauert in Adlershof die Altlastensuche an. Da der Chemiestandort fast so groß ist wie alle anderen Ostberliner Industriegrundstücke zusammengenommen, wurde er in 20 Untersuchungsparzellen aufgeteilt. Hier werden in einem festgelegten Raster Bodenproben bis zwei Meter tief hinein in die grundwasserführenden Schichten genommen. Voraussichtlich 1994 liegen alle Probenergebnisse vor, schätzt die Umweltverwaltung.
Fortsetzung folgt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen