: „Ich bleib' Emigrant“
Eine Berliner Tagung zur Exilforschung lappt ins Aktuelle ■ Von Frauke Meyer-Gosau
Aktuelle Bezüge lagen zunächst nicht nah: Das Thema der (ungewöhnlich gut) organisierten Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung – geplant diesmal vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung – hieß »Deutsch-jüdisches Exil: Das Ende der Assimilation? Identitätsprobleme deutscher Juden in der Emigration“.
Und doch: Den Auftakt machte eine Podiumsdiskussion im Literaturhaus zum „Exil in Deutschland“. Eine rumänische Schriftstellerin, ein vietnamesischer Jurist, ein tschechischer Maler, eine deutsche Publizistin in Stellvertretung einer iranisch-kudischen Familie, die aus Gründen auch noch hier anhaltender politischer Verfolgung nicht selbst auf dem Podium in Erscheinung treten konnte, berichten und debattieren ihre Erfahrungen. Aber nicht einmal ein so erfahrener Moderator wie Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, konnte verhindern, daß das Gespräch bei recht individuellen Eindrücken verharrte, die es am Ende vorrangig als eine Sache des persönlichen good will erscheinen ließen, ob Deutsche und politisch Verfolgte in diesem Land zusammen leben können.
Einzig die deutsche Diskussionsteilnehmerin benannte zentrale Aspekte der Entfremdung im Exil: den nahezu unlösbaren Konflikt zwischen Heimatkultur und derjenigen des Gastlandes; den Statusverlust der Familie, in der Regel aber insbesondere des Mannes; die Sprachschwierigkeiten; die Mehrfach- und Überbelastung der Frauen als Organisatorinnen des Alltags, Vermittlerinnen zwischen Familie und gesellschaftlichen Institutionen, die zugleich oft Ernährerinnen der Familie sind. Schließlich die Zerreißprobe, in die die Kinder geraten, die die ihre Heimatkultur als zunehmend fiktiv erfahren und an der fremden Kultur aktiv teilnehmen wollen und müssen, dabei in Widerspruch zu ihren Eltern geraten und zugleich für deren Erfolglosigkeit im neuen Gesellschaftszusammenhang kompensatorisch eintreten sollen.
All diese Elemente bedrohter Identität spielten in den wissenschaftlichen Tagungsbeiträgen eine Rolle. Wer das erste Veranstaltungsangebot angenommen hatte, mußte nicht mühsam verallgemeinern und generalisieren, sondern konnte synthetisch zusammendenken, welche Grundzüge der Erfahrung Kurt Tucholsky, Alfred Kerr, Siegfried Kracauer, die Historikerin Selma Stern, die Dichterin Nelly Sachs, der Filmer Hermann Kosterlitz (in Hollywood: Henry Koster), Martha Feuchtwanger, Heinrich Heine, der Bankier Hugo Simon, Arnold Zweig, Else Lasker-Schüler, der Journalist Hans Habe und der Historiker Gerhard (dann: George) Mosse teilten. Da war über einzelne Schicksale vieles, auch Neues zu erfahren, und mitunter machte die Präsentation durchaus Lust, diesen Lebensgeschichten einmal näher nachzugehen.
Selten wurden allerdings überindividuelle Muster der Beschädigung oder Bewahrung der Identität und deren Voraussetzungen deutlich, wie Wolfgang Benz sie in seinem Einführungsreferat zur Diskussion gestellt hatte: Ist der Topos von der „deutsch-jüdischen Symbiose“ tatsächlich mehr Legende als je Realität gewesen – ein tiefsinniger, gedanklich zwischen Biographischem und Literarischem mäandernder Beitrag von Klaus Briegleb über einen Text von Heinrich Heine gab darauf die sehr entscheidende Antwort, bereits der getaufte Jude Heine sei ein „Sprecher des Leidens an der Assimilation“, ein Autor düsterer Prophezeiungen über deren Ausgang gewesen. Erlagen also die deutschen Juden dem „Mißverständnis, als Jude Mensch sein zu können“? Handelte es sich bei ihrer nicht nur emphatischen, sondern im Ersten Weltkrieg auch praktisch bewährten Liebe zur deutschen Kultur und Nation um eine, wie Benz sagte, „einseitige Liebeserklärung“? Viel Stoff zur Reflexion, der jedoch nur von wenigen so offen und offensiv angenommen wurde wie etwa von Sigrid Thielking, die sich mit Erklärungsmustern deutsch-jüdischer Autoren für das Umschlagen von „deutscher Kultur“ in die NS-Barbarei beschäftigte und belegte, daß die nationalsozialistische Feinderklärung gegen die Juden in der Weimarer Republik auch als Schlag gegen die noch ungefestigte Demokratie gemeint war. Einen indirekten Bezug zur gegenwärtigen Situation herstellend, beschwor die Referentin daher die Notwendigkeit der Stärkung der Demokratie in Deutschland – nicht penetrant und rhetorisch, sondern implizit, mit Hilfe eines eindrucksvollen Zitates. Oder – gewiß der ästhetische wie intellektuelle Höhepunkt der Tagung klug vorausschauend an deren Ende gesetzt – Jost Hermand in seinen Ausführungen über den dem beherrschenden Zeitungsimperium der Weimarer Republik entstammenden anglo-amerikanischen Historiker Gerhard, dann George Mosse. Hier wurde eine Biographie vorgestellt, die geradezu idealtypisch die Werte eines humanistisch gebildeten deutschen Bürgertums mit dem linksintellektuellen Impetus des insistenten Gesellschaftskritikers á la Bloch, Marcuse, Adorno verbindet und den Vortragenden zur der Schlußfolgerung führte, aus dem deutsch-jüdischen sei gerade durch die erzwungene Emigration ein „deutsch-jüdisch-amerikanischer Dialog“ entstanden, den es in Zeiten bedrohter Demokratie und verlachter Tugenden des bürgerlichen Individuums in Deutschland stärken gelte.
„Aus der Enge des Ghettos in die Weite der Kultur“ – ein Leitsatz Hermands, der in krassem Gegensatz zu Brieglebs bitteren (Voraus-)Deutungen des Schicksals der assimilationswilligen Juden des frühen 19. Jahrhunderts stand – man hätte sich gewünscht, daß solche fundamentalen Gegensätze zum Gegenstand engagierter Debatten geworden wären. Doch dazu war die Zeit nicht. Zu vollgepackt war das Programm, zu nachgiebig die Vergabe von Referaten, zu wenig insistent die Gesprächsleitung, die Verbindungen der einzelnen Referate sowohl zum übergreifenden Thema als auch untereinander hätte herstellen müssen. Doch kommt darin letztlich auch wieder ein Vorzug dieser Forschervereinigung zum Ausdruck, die nicht zensieren, die auch noch ungeübten SprecherInnen eine Möglichkeit zur Artikulation verschaffen will.
Zu deren demokratischer Verfaßtheit gehört, daß das Mißvergnügen am Gesamtverlauf auch offen kritisiert, auf Möglichkeiten der Veränderung gesonnen wurde, die auch realisierbar scheinen. Die nächste Tagung findet im Frühjahr 1994 im Goethe-Institut in Prag statt, Thema wird das literarische und politische Exil in Prag und Osteuropa zwischen 1933 und 1938 sein.
Es gibt viele Gründe anzunehmen, daß die formalen wie inhaltlichen Schwierigkeiten der jetzigen Begegnung dann im Bewußtsein sein werden und einen anderen, vom Einzelstudium und Einzelschicksal sich auch einmal abhebenden Tagungsablauf bestimmen. Die Sensibiltät dafür, daß der Gegenstand, mit dem es die Exilforschung in Deutschland zu tun hat, kein „historifizierter“, stillgestellter und also quasi archäologischer ist, hat sich bereits in diesem Jahr Ausdruck verschafft. Auch der mitreißende junge Sänger Troyke, der auf dem „Literarischen Abend“ in der Akademie der Künste den Part der jüdischen Musik bestritt, wollte als dringend eingeforderte Zugabe nicht noch ein weiteres jiddisches Lied singen. Er sang ein Lied der Roma.
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