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Mit Kant und Kafka in die Wirtschaft

■ Akademiker-Arbeitsmarkt: Praktiker haben gute Chancen / Als Historiker wird man Bundeskanzler

: Praktiker haben gute Chancen / Als Historiker wird man Bundeskanzler

Auf dem Bild von Seite 3 sieht es aus wie ein modernes Großraumbüro. Auf bequemen Stühlen sitzen aufmerksame Menschen vor Bildschirmen, auf dem danebenliegenden Papier notieren sie vermutlich die attraktiven freien Stellen. Gleich werden sie aufstehen, aus dem Foto hinausgehen und den künftigen Arbeitgeber sofort vom kostenlosen Arbeitsamtstelefon aus (das ist im Text derselben Seite erwähnt) anrufen. Danach werden sie das auf dem Foto dargestellte Arbeitsamt verlassen und im Cafe nebenan einen Schluck Sekt auf die Zukunft trinken, die gleich nach dem Studium beginnen wird. Nein, das ist wirklich nicht Realität, sondern die Seite 3 einer Vierfarb- Werbebroschüre über einen künftigen Stellen-Informations-Service im Arbeitsamt. Die Realität für arbeitssuchende AkademikerInnen sieht etwas anders aus.

„Jura ist gut“, sagt Dr. Dorothea Niemann, Abschnittsleiterin im Fachvermittlungsdienst des Hamburger Arbeitsamtes. Das konnte vor ein paar Jahren zwar noch keiner wissen, aber „Jura ist ausgezeichnet“. Da warten die Verwaltungsjobs in den neuen Bundesländern auf jeden, der sein Studium hinter sich gebracht hat. Auch Sozialpädagogen werden gebraucht. Die jahrelange sichere Nachfrage nach Maschinenbau- und Elektro- Ingenieuren haben Stahlkrise und wirtschaftliche Rezession dagegen drastisch eingeschränkt. Andere Träume vom Arbeitsmarkt haben sich nicht erfüllt: Wer langfristig mit neuen Jobs im Umweltschutz gerechnet hat, sieht heute vermutlich, daß sein Biologiestudium kaum gefragt ist, eher den Praktikern winken die neuen Berufe, Ver- und Entsorger zum Beispiel.

Dennoch ist Dr. Niemann optimistisch und sieht in marktgerechter Studienplanung auch die Chancen auf einen Arbeitsplatz: Auf die Schwerpunktbilung nach dem Vordiplom achten, rät sie, die richtigen Prüfungsfächer wählen und keinesfalls vergessen die „Auseinandersetzung mit dem Arbeitsmarkt, Wirtschaftsteil lesen, Stellenanzeigen und Fachpublikationen“. Aber damit endet ihre Liste der Empfehlungen noch lange nicht: Kontakte zu potentiellen Arbeitgebern suchen, Praktika machen, um ein realistisches Bild vom angestrebten Arbeitsplatz zu bekommen. „Ja, ich weiß“, gesteht sie ein, „das ist alles schwierig und mit viel Lauferei verbunden.“ Dennoch, wer einen Arbeitsplatz sucht, der müsse eben auch richtig suchen.

Bei den Fachberatern, zuständig für die unterschiedlichen Berufsfelder, klingt es gleichermaßen optimistisch, wenn man nach Chancen von Studienabgängern auf dem „Arbeitsmarkt heute“ fragt. Immerhin stellen die Akademiker die kleinste Gruppe der Arbeitslosen. Und wer das Lernen gelernt hat, der wird zwar nicht unbedingt im angestrebten Beruf mit offenen Armen erwartet, aber vielleicht ein Stückchen nebenan, in artverwandten zum Beispiel. Was zum Beispiel ist Lehrern artwerwandt? 9000 hat Hans Peter Peise, Arbeitsberater für Lehrer und Theologen, in der Kartei. 39 Prozent sind 40 Jahre und älter. Eigentlich sind sie ein Rechenfehler, denn irgendwann war die Schulbehörde davon ausgegangen, daß sie gebraucht würden. Das war ein Irrtum. Den meisten ist das Lachen längst vergangen. Die einen stecken in der Kartei, andere verkaufen mittlerweile Bier oder Versicherungen. „Wer Sprachen konnte, war besser dran“, sagt Peise. Mit günstigen Fächern sei mancher Gymnasiallehrer doch noch im Schuldienst gelandet. Günstige Fächer sind Naturwissenschaften, also Mathe, Chemie und Physik, außerdem evanglische Religion und Musik. Deutsch und Geschichte sind nicht gefragt. Rät er Studienanfängern heut noch oder wieder zum Lehrerberuf? Schülerzahlen schließlich kennt man schon Jahre vorher, wird man also trotz vergangener Irrtümer den Bedarf berechnen können? Nein, denkt Peise, so einfach ist das nicht. Wird die wirtschaftliche Situation schlechter, könnten die Klassen auch wieder größer werden. „Aber wenn man die richtigen Fächer wählt, auch Sprachen...“

Helmer Nettlau, Arbeitsberater für Geistes- und Sozialwissenschaftler, legt sofort alle seine Trümpfe auf den Tisch (und wäre ich Arbeitgeberin, ich hätte sicher sofort gesagt: Geben Sie mir doch gleich ein paar mit!): Eigentlich alle könnte seine Klientel werden. Ein Historiker zum Beispiel Bundeskanzler. Da solche Stellen aber auch beim Arbeitsamt Hamburg knapp sind, hastet die Realität seiner Kartei nur mühsam seinem Optimismus hinterher. Über 1000 Arbeitslose könnte er vermitteln. 111 Vermittlungen stehen auf der Erfolgsbilanz von 1992.

Mit Kant und Kafka in die Wirtschaft? „Na klar“, meint Nettlau und sieht in Banken und Großfirmen, die schon Geisteswissenschaftler eingestellt haben, Vorbilder für die künftige Unternehmenskultur. Die bayrischen Arbeitgeberverbände haben zusammen mit dem Verein Student und Arbeitsmarkt eine handliche Broschüre zur Brauchbarkeit von Akademikern herausgegeben, die auch Nettlau gefällt. Da wird zum Beispiel die Fertigkeit gelobt, sich in fremden Sinnzusammenhängen zurechtzufinden: „Gleichgültig, ob sie das an Hand Shakespearescher Sonnette, fremder Kulturen oder Interviewäußerungen eingeübt haben: Sie werden sich auch in fremde Märkte und in Kunden — z.B. bei Reklamationen — eindenken können!“ Und so sieht Nettlau ein weiteres Vermittlungsfeld in Forschung, Verwaltung und Verbänden, hofft für seine Klientel auf Arbeitsplätze in Marketing, PR und Medien, in Unternehmensberatung und Marktforschung, bei Behörden und Kirchen.

Aus der Traum vom Traumberuf? Ein Alltag mit Beschwerden statt Shakespeare? Dr. rer. nat. Dorothea Niemann sieht das nicht so eng. Mit 16 hat sie in die Forschung gewollt. Und so eine Art Forschung ist es ja auch, was sie nun betreibt, in der Norderstraße 103. Aber auch dahin kommt man nur mit einer „sauberen Bewerbung und ein Brief ohne Komma macht keinen guten Eindruck.“ Gisela Budée

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