■ Der russische Sonderweg zur Demokratie: Sklaven der Freiheit
„Lernt Demokratie!“ Mit diesem Appell fing die Parteizeitung Prawda die Perestroika an. Damals wurde der Aufruf zu „mehr Demokratie“ vollkommen mißverstanden. Die Reformkommunisten um Gorbatschow meinten lediglich die innerparteiliche Demokratie. Aber die Sowjetleute faßten diesen Begriff viel weiter: Unter Demokratie verstand man die Befreiung von der Herrschaft der korrumpierten Parteispitze und die Veröffentlichung des verbotenen „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn, die Abschaffung der Privilegien – und volle Läden „wie im Westen“. Mit diesen Erwartungen sammelten sich Millionen unter den Fahnen der Bewegung „Demokratisches Rußland“ und läuteten den Abgesang des Kommunismus ein. Der Sieg der Demokraten brachte alles andere als das: höhere Preise, Unsicherheit und die Notwendigkeit, richtig zu arbeiten. Nur der „Archipel Gulag“ wurde veröffentlicht, aber kaum jemand kam dazu, ihn zu lesen. Jetzt weigern sich die meisten Politiker, sich als Demokraten zu bezeichnen, weil diese im Volksmund „Dermokraten“ heißen, abgeleitet von Dermo – Scheiße.
Demokratie gab es nie
Vor seiner Wahl hatte Boris Jelzin versprochen, er würde sich vor die Lokomotive werfen, wenn die Preise weiter stiegen. Nun beträgt die Inflation Tausende Prozent jährlich. Nach einer solchen Niederlage hätte man in jeder westlichen Demokratie bei Neuwahlen den Präsidenten abgewählt. In Rußland aber geschieht beinahe das Gegenteil: Jelzins Rivalen auf dem Kongreß der Volksdeputierten haben richtig Angst vor den Neuwahlen, während Jelzin nach letzten Meinungsumfragen die Unterstützung der Mehrheit der potentiellen Wähler genießt.
Eine Demokratie gab es in Rußland nie. Auch nicht in den freien Städten im Nordrußlands des 10. bis 15. Jahrhunderts. Die Grundlage sozialer Organisation im Agrarland Rußland bildete die sogenannte Obschtschina, die Bauerngemeinde. Die Zarenmacht benutzte die totalitäre Institution der Obschtschina, um die Rebellion der Persönlichkeit zu unterdrücken und die Leibeigenschaft zu festigen. Während im feudalen Europa die territoriale Gemeinde immer mehr an Bedeutung verlor, führte die Entwicklung des russischen Feudalismus immer weiter weg von der Bill of Rights und der Habeas-corpus-Akte zur Verstärkung der Leibeigenschaft. Die Obschtschina war die größte konservative Kraft in der russischen Geschichte. Seit der ersten Reform Peters des Großen hemmte sie alle Impulse der Europäisierung Rußlands. Nach der Revolution prägte sie die entstehende Sowjetmacht. Die Bauerngemeinden (als „Kolchosen“ umbenannt) und die „Arbeiterkollektive“ in den Städten wurden zur „Grundlage der sozialistischen Demokratie“ erklärt. Alle sowjetischen Partei-, Armee- oder beispielweise Hochschulkollektive waren ähnlich strukturiert – ja, selbst die Straflager unterlagen diesem Prinzip.
Tausend Jahre Kollektiv
Diese sonderbare „Demokratie“ war nicht die Kehrseite, sondern gerade die Basis der Sowjetmacht. Es ist deswegen kein Wunder, daß Jelzins Rivalen, konservative Politiker wie Ruzkoi und Chasbulatow, fast in jeder Rede für sogenannte „Kollektive der Werktätigen“ oder „Soldatenkollektive“ plädieren. Eines der wichtigsten Prinzipien des sowjetischen Systems war eben das sogenannte „Prinzip des Kollektivismus“. Die höchste Macht über Seelen und Körper der Mitglieder des Kollektivs hatte nicht etwa eine „Kaste“ im Lager, auch nicht die Oberschicht in den anderen Zwangsgemeinschaften. Sie unterdrückten die Persönlichkeit, um sie zu zwingen, sich der Macht des höchsten Souveräns zu unterstellen – dem parteilichen Adel und seinen Führern. Die Machthaber, von Stalin bis Breschnew, nannte man dann auch Pachany – analog den kriminellen Anführern in den Straflagern, die über Leben und Tod der anderen Gefangenen richteten. Der junge Solschenizyn hatte während des Krieges in einem Brief Stalin als einen Pachan bezeichnet und wurde dafür aus dem Soldatenkollektiv ins Lagerkollektiv versetzt. Aber sogar diese Erfahrung brachte den bekanntesten sowjetischen Dissidenten nicht dazu, sich für die Freiheit und Rechte der Persönlichkeit einzusetzen. Er war in dieselbe Falle geraten wie die russische Intelligenzija des 19.Jahrhunderts. Der Leibeigenschaft wußte sie kein Ideal der persönlichen Befreiung entgegenzuhalten. Im Gegenteil, in der patriarchalischen Obschtschina sah sie die ureigene Besonderheit des russischen Nationalcharakters und den Sonderweg Rußlands: Man müsse „alles über sich ergehen lassen, was das Volk – d.h. die Mehrheit – zu ertragen bereit ist“. Dieses undemokratische Denken machte sich auch Solschenizyn zu eigen. Der Kritiker der „gottlosen“ westlichen Demokratie wurde zur Symbolfigur für die modernen russischen Nationalisten und Kommunisten, die die konservative Mehrheit des Kongresses bilden und gegen Jelzin kämpfen. Diese Verfechter des Sonderwegs Rußlands behaupten, Jelzin strebe zur Diktatur und wolle „ein Zar aller Reußen“ werden.
Aber Boris Jelzin ist kein neuer russischer Zar, noch weniger ein Reformer vom Schlage Peters des Großen oder Gorbatschows. Jelzin ist ein Kosaken-Ataman. Kosaken nannte man die einfachen Bauern, welche die Ketten einer Obschtschina und die Peitschen der Leibeigenschaft nicht mehr ertragen wollten und Zuflucht außerhalb der Grenzen des Zarenreiches suchten. Dort bildeten sie freie Gemeinden und wählten sich einen Führer, einen Ataman. Diese Bauernkrieger vertreten einen anderen Typ der Russen, einen, der eben nicht alles ertragen und über sich ergehen lassen will.
Mit der sprichwörtlichen Geduld des Volkes rechnen immer noch die konservativen Politiker, die Rußland back into the future des Kommunismus zu führen versuchen. Doch die Geschichte ist gegen sie. Das Volk hat dies während der letzten Jahre mehrmals bewiesen. Wie früher nur die Außenseiter, die Kosaken, will jetzt die Mehrheit des Volkes seine Sklavenschaft loswerden. Statt des allmächtigen Staates wird das Volk zum Souverän. Aber es ist noch zu früh, von demokratischen Prozeduren und Institutionen zu sprechen. Deputat, Abgeordneter, wurde zum Schimpfwort. In Rußland glaubt man jetzt an nur ein demokratisches Prinzip: allgemeine und direkte Wahlen eines Atamanen, der das Land zur Freiheit führen wird. Denn was jetzt die Tagesordnung des politischen Kampfes in Rußland beherrscht, ist kein Kampf für Demokratie, sondern immer noch die Abschaffung der Leibeigenschaft.
Immer noch Leibeigene
Boris Jelzin hat seine Wähler nicht betrogen. Wie alle Atamanen versprach er ein gutes Leben im Schlaraffenland. Man glaubte ihm natürlich, aber in Wirklichkeit erwartet man nur eines: Freiheit. Nur die Freiheit verteidigten Zigtausende während des Augustputsches und des letzten Kongresses. Nicht die freie Marktwirtschaft und nicht die Demokratie. Erst wenn sich das Volk endgültig und unwiederbringlich von seiner Leibeigenschaft befreit hat, kann Rußland beginnen, Demokratie zu lernen. Boris Schumatsky, Moskau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen