„Die Kollegen sind verunsichert“

■ Interview mit Karl Worel, kritischer Betriebsrat im Frankfurter Stammwerk der Hoechst

Nach der Unfallserie bei der Hoechst AG steht die interne Sicherheitskultur des Multis im Rampenlicht. Die hessische Landesregierung läßt die Zuverlässigkeit von Hoechst als Anlagenbetreiber überprüfen, Umweltverbände wie der BBU haben inzwischen Strafanzeige gegen den Hoechst-Vorstand und Aufsichtsrat gestellt. Wie sehen die Beschäftigten die Sicherheitssituation in ihrem eigenen Betrieb?

taz: Warum häufen sich die Unfälle in den Hoechst-Werken?

Karl Worel: Kleinere Unfälle sind hier immer schon tagtäglich vorgekommen. Neu ist die Kette schwerer Betriebsstörungen. Diese Unfälle muß man vor dem Hintergrund der großen Rationalisierungswelle betrachten, die Anfang 1990 ins Rollen kam. Sie hat dazu geführt, daß wir heute zum Beispiel im Höchster Hauptwerk 2.000 Mitarbeiter weniger haben. Die Stimmung der Belegschaft ist auf einem Tiefpunkt, die Kollegen sind demotiviert und haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Dann kam es zu dem Unfall in Griesheim, der eine bestimmte Presseöffentlichkeit ausgelöst hat. Seither sind die Kollegen noch mehr verunsichert. Sie haben jetzt auch noch Angst, unter Beschuß zu geraten, wenn sie einen Fehler machen.

Auch die anderen deutschen Chemiekonzerne haben Personal abgebaut. Haben die Leute, die bei Hoechst geblieben sind, vergessen, wie man mit Chemieanlagen umgeht?

Aber nein, die Kollegen wissen sehr gut, wie man solche Anlagen fährt. Die versuchen, ihre Arbeit sogar unter diesen erschwerten Bedingungen so gut wie möglich zu machen. Je weniger Fehler man aber machen will, desto mehr kommt man unter Streß – und desto größer werden die Fehler. Das ist bei allen Menschen so, nicht nur bei Chemiearbeitern. Dazu kommt, daß die Sicherheit der Anlagen viel zuwenig daraufhin untersucht wird, welche menschlichen Fehler auftreten und wie sie aufgefangen werden können.

Das Höchster Oleum-Werk stammt aus den fünfziger Jahren. Was hat denn dort genau versagt?

Nach allem, was bisher bekannt ist, scheint eine Rohrleitung zur Abluftanlage verstopft gewesen zu sein. Dann soll ein armdickes Glasrohr geplatzt sein: Bei so einer Anlage würde ich ein Rohr verwenden, das bei erhöhtem Druck nicht so schnell bricht, zum Beispiel ein Rohr aus Titan oder welches Material auch immer die nötige Säurebeständigkeit hat. Außerdem wären am Anfang und Ende einer solchen Leitung Ventile erforderlich, die sich bei Druckverlust automatisch schließen. Hier mußten sie anscheinend von Hand bedient werden.

Warum fehlen solche technischen Standards beim größten Chemiekonzern Deutschlands?

Offenbar sind die Mängel bei der letzten Sicherheitsprüfung nicht entdeckt worden. Soweit es möglich war, haben die Kollegen den Schaden nach dem Unfall begrenzt. Organisatorisch versagt hat aber dann die Alarmierung der Betriebsteile, zu denen die Wolke hinzog, Klimaanlagen zum Beispiel sind nicht rechtzeitig ausgeschaltet worden.

Das Forum für durchschaubare Betriebsratsarbeit, dem Sie angehören, hat schon im vergangenen Sommer davor gewarnt, daß die Entlassungen bei Hoechst zu Sicherheitsproblemen führen. Fordern Sie, daß wieder mehr Personal eingestellt wird?

Zumindest muß der Personalabbau gestoppt werden, vor allem in der Produktion, von der ja die Unfallgefahr ausgeht. Die Kollegen müssen heute mehr Anlagenteile überwachen, der Streß ist auch dadurch gewachsen. Die Leute sollen endlich in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können. Wenn die Belastung zu groß wird, würde ich ihnen raten, vom Betriebsleiter zu fordern, daß Anlagen abgestellt oder nicht mit voller Kapazität gefahren werden.

Umweltminister Klaus Töpfer schlägt vor, die Zuständigkeit für Sicherheitsfragen von der für die Produktionsleitung zu trennen.

Damit wären Vorteile und Nachteile verbunden. Eine selbständige Sicherheitsabteilung könnte durch Direktionsgewalt sofort Änderungen an einer Anlage vornehmen. In vielen Fällen wäre das zweifellos notwendig. Nur besteht damit die Gefahr, daß die für die Produktion zuständigen Betriebsleiter versuchen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die glauben dann, daß sie sich über Sicherheit keine Gedanken mehr machen müssen. Das müssen sie aber doch, denn dauernd werden Anlagen geändert und dabei müssen Sicherheitsaspekte berücksichtigt werden. Man muß Gefahren auch in alltäglichen Produktionssituationen erkennen können.

Was muß als nächstes geschehen?

Als erstes müssen sämtliche Anlagen einem Sicherheitscheck unterzogen werden. Sie sollten nur für eine gewiße Zeit genehmigt und danach erneut überprüft werden. Zweitens muß soviel Personal eingestellt werden, daß streßfreies Arbeiten wieder möglich wird. Drittens muß mit der Belegschaft ein Sicherheitstraining gemacht werden, wie wir das zum Beispiel aus Atomkraftwerken kennen.

War die Ausbildung bei Hoechst mangelhaft?

In fachlicher Hinsicht nicht. Die berufliche Qualifikation ist vorhanden, zum Teil langjährige Betriebserfahrung auch. Was fehlt, ist ein hinreichendes Wissen darüber, was bei Notfällen zu geschehen hat. Sicherheitsbelehrungen, die nur den persönlichen Schutz betreffen, reichen nicht aus.

Hessens Umweltminister Joschka Fischer fordert personelle Konsequenzen im Konzernvorstand.

Die Politik möchte jetzt zeigen, daß sie hart durchgreift, und für sie wäre es sicherlich hilfreich, wenn im Vorstand andere Personen säßen. Aber es geht ja darum, die Sicherheit der Anlagen wieder zu gewährleisten. Das Sicherheitskonzept hat sich bei Hoechst in langen Jahrzehnten von oben nach unten eingeprägt. Es kommt jetzt darauf an, ein anderes Konzept einzuführen, und ich bezweifle, ob es dazu ausreicht, oben einen Kopf auszuwechseln. Es muß den Leuten von der Spitze bis ins unterste Management hinein endlich klarwerden, daß Sicherheit und Umweltschutz heute Vorrang haben, und daß Maßnahmen, deren Notwendigkeit man erkannt hat, sofort umgesetzt werden müssen – auch wenn das Geld kostet. Fragen: Niklaus Hablützel