Sie fliegen... sie fliegen nicht...

Vor dem Bundesverfassungsgericht ist der Streit der Bonner Koalition über die deutsche Beteiligung bei den Awacs–Aufklärungsflügen voll entbrannt

Nein, das hatte man im Bundesverfassungsgericht noch nicht erlebt. Wenn die acht Verfassungsrichter von ihrer Bank herunterblickten, dann sahen sie: vier veritable Bundesminister, Nato-Generalsekretär Manfred Wörner, Bundeswehrgeneralinspekteur Klaus Naumann, FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms und den parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Günther Verheugen. Der Regierungsumzug nach Karlsruhe war beinahe komplett, die Opposition immerhin gut vertreten.

Solms und Verheugen waren als Kläger und Antragsteller gekommen, die vier Minister und Wörner hatte das Gericht geladen. Aber für alle galt: Sie waren nach Karlsruhe gekommen, um Hilfe zu holen. Und an ihrer Hilflosigkeit weidete sich das Gericht fast schon. Für ihn, so Richter Berthold Sommer, entstehe folgendes Bild des Regierungshandelns: „Man setzt einen Zug in Bewegung, ohne zu klären, ob die Gleise schon liegen, auf denen er fahren kann.“

Sommer kam zu diesem Schluß, nachdem CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe, Naumann und Wörner wortreich die technische und politische Unmöglichkeit beschworen hatten, die deutschen Soldaten aus den Awacs-Maschinen abzuziehen – und andererseits FDP-Außenminister Klaus Kinkel und die FDP-Fraktion auf die jahrelange Verfassungsinterpretation der Bundesregierung hingewiesen hatten, wonach deutsche Kampfeinsätze außerhalb des Verteidigungsauftrages nicht erlaubt seien.

Die Bonner Regierung stand vor Gericht, und die Richter nahmen beide Seiten ins Kreuzverhör. Sie interessierte, ob die Bundesregierung ihren mit Unionsmehrheit gefaßten Awacs-Einsatzbeschluß auf jeden Fall aufrechterhalten würde – selbst wenn das Gericht den Antrag der FDP-Fraktion ablehnte, dies aber rein formal begründen und keinen Hinweis auf die Verfassungslage geben würde. Denn: Sollte die Bundesregierung ihren Beschluß gar nicht ernst gemeint haben und ihn auf Druck des Koalitionspartners FDP notfalls wieder zurücknehmen, gäbe es auch keinen Grund für das Gericht, eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Der Show-Charakter des Regierungsbeschlusses wäre entlarvt, der FDP-Antrag von vornherein unzulässig.

Zweimal nahm sich Mahrenholz Kanzleramtsminister Bohl dazu zur Brust. Doch: „Der Beschluß steht“, versicherte Bohl – fügte aber ehrlicherweise hinzu, die möglicherweise entstehende Koalitionslage könne er „nicht beurteilen“. Könnte der Beschluß, fragte Mahrenholz nach, also wieder aufgehoben werden? „Der Beschluß steht“, wiederholte Bohl störrisch. Es gebe „keine Anzeichen“, daß er wieder aufgehoben werde.

Peinlich für Bohl, daß FDP- Mann Solms gleich darauf genau diese Anzeichen lieferte. Die Frage, wie die Koalition auf eine Karlsruher Nicht-Entscheidung reagiere, könne „durchaus eine sehr dramatische Form annehmen“, gab Solms überraschend zu. Heiße dies nicht, schob Mahrenholz nach, daß die Koalitionsfrage gestellt werde? Solms nickte – und gab sich damit ebenfalls der Lächerlichkeit preis. Noch am Dienstag in Bonn hatte er seine Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger angepfiffen, als sie für genau den von Mahrenholz beschriebenen Fall ebenfalls die Koalitionsfrage aufgeworfen hatte.

Den Fragen der Karlsruher Richter konnten die Bonner kaum ausweichen, weniger leicht als daheim in Bonn. Vor den roten Roben schrumpften Solms und Bohl plötzlich auf Normalmaß. Die Autorität des Karlsruher Gerichtshofs wirkte. Doch die Richter verwandten auch viel Aufmerksamkeit auf die Frage, was über Bosnien passieren würde, wenn sie den von der Regierung in Bewegung gesetzten Awacs-Zug stoppen würden – unabhängig vom Vorhandensein verfassungsrechtlicher Gleise. Erstaunt mußte der Vorsitzende Richter Ernst Gottfried Mahrenholz Aussagen zur Kenntnis nehmen, das Awacs-Geschwader sei bei einem Abzug der deutschen Feuerleitoffiziere nur zwei Wochen lang voll funktionsfähig. Er habe in der Presse gelesen, wandte der Richter ein, die Deutschen ließen sich durch Amerikaner, Briten und Franzosen ersetzen. „Nein“, behauptete Naumann, das sei nicht möglich

Naumann setzte sich damit tapfer in Widerspruch zu allen Aussagen, die bisher im Bonner Verteidigungsministerium und dem Brüsseler Nato-Hauptquartier zu hören gewesen waren. Auch Wörner zog alle Register, um das Gericht unter Druck zu setzen. Ohne die deutschen Soldaten stünde „die Erzwingung des Flugverbots auf dem Spiel“, jammerte er. Die „Effizienz und Glaubwürdigkeit“ der Nato, ja der UNO wäre bedroht. Bei „all dem Morden und der Aggression“ im ehemaligen Jugoslawien sei das, legte Wörner den Richtern nahe, kaum zu verantworten.

Zeitungsleser Mahrenholz ließ sich kaum beeindrucken. Sei der Awacs-Einsatz angesichts der überaus seltenen serbischen Bomberflüge über Bosnien, fragte er, nicht eher „ein symbolischer Akt“? Brigadegeneral Friedrich Wilhelm Ehmann, der Awacs- Kommandeur, war verdattert. „Daß wir ein symbolischer Akt wären?“ fragte er verunsichert. „Das sehe ich nicht!“

Nebenbei entrangen die Richter den Militärs erstaunliche Offenbarungen. Die Hilfsflüge der Luftwaffen-Transporter nach Srebrenica seien für die Soldaten in der Tat gefährlicher als der Mitflug in den Awacs-Maschinen über der Adria. Das bestätigte Naumann so nebenbei.

Zwischen Naumann und Kanzleramtsminister Bohl saß Klaus Kinkel – und damit zwischen allen Stühlen. Als Außenminister mußte er gezwungenermaßen auf der Seite des Antragsgegners Bundesregierung Platz nehmen. Am Mikrophon vertrat er die Auffassung des Antragstellers FDP-Fraktion. „Kein deutscher Soldat“ dürfe in eine Situation gebracht werden, in der es „um den Tod von Menschen“ gehe, ohne daß „nicht eindeutig und zweifelsfrei“ die Verfassungsmäßigkeit des Einsatzes geklärt sei.

„Ich bin ja heute in einer etwas schwierigen Sondersituation“, bekannte er. Das fing schon am Dienstag an. Kinkel reiste getrennt von der FDP-Fraktion an, übernachtete zwar im selben Hotel wie seine Parteifreunde, durfte aber wegen einer Order des Kanzlers nicht an der Vorbesprechung der freidemokratischen Fraktionsführung teilnehmen.

Die Trennung von Tisch und Bett – zumindest zwischen Kinkel und der FDP-Fraktion war sie bereits vollzogen. Hans-Martin Tillack