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Das Treppenhaus im Jugendgefängnis

■ Filme von Gianni Amelio – Werkschau im Arsenal

Vor allem zwei Dinge fallen an den Filmen des Italieners Gianni Amelio auf: seine Geschichten beginnen meist dann, wenn die spektakulären Ereignisse bereits vorbei sind, und er erzählt sie so, als ob er sie bloß beobachtete. Gianni Amelio ist ein Neo-Realist, ein psychologischer Realist. Nicht die Entführung des dreijährigen Jean in „I Velieri“ (Die Segler, 1982) interessiert ihn, sondern wie ein Junge Jahre später damit lebt. Und nicht, daß eine Elfjährige von ihrer Mutter zur Prostitution gezwungen wird, ist ihm einen Film wert, sondern er greift zur Kamera, um in „Il ladro di bambini“ (Gestohlene Kinder, 1992) zu zeigen, was mit dem Mädchen und ihrem Bruder passiert, nachdem der Fall aktenkundig geworden ist.

Amelios Stoffe entstammen den Schattenseiten der Ereignisse und der Gesellschaft. In seinem ersten Film „La Fine del Gioco“ (Das Ende des Spiels, 1970) geht es um einen Fernsehregisseur, der eine Dokumentation über Jugendgefängnisse dreht. Als Protagonisten sucht er sich aus den Reihen kindlicher Straftäter den zwölfjährigen Antonio heraus – der einzige, der bei der Musterung den Kopf gesenkt hält. Die Zurückhaltung des Jungen zeugt aber keineswegs von Willfährigkeit. Während der Zugfahrt zu einem der Drehorte kommen Antonio große Zweifel am Sinn des Unterfangens. Am Ende steigt er aus, weil er dieses Spiel nicht mitmachen will.

Um die herkömmlichen dokumentarischen Mittel ad absurdum zu führen, benutzt Gianni Amelio sie hier zunächst konsequent. Nur wenige Schnitte gibt es in „La Fine del Gioco“, durch langsame Kameraschwenks (von Guilio Albonico) werden Personen und Räumlichkeiten regelrecht ausspioniert. Man weiß dann zwar, wie das Treppenhaus im Jugendgefängnis oder der Aschenbecher im Zugabteil aussieht, wie Antonio sich die Schuhe anzieht und welche Zeitung der Mitreisende liest, aber eine Erkenntnis läßt sich daraus nicht gewinnen. Wirklich dokumentiert wird das Leben des Jungen erst, wenn die Kamera auf seinem Gesicht ruht, wenn sie sich also ihrer Möglichkeiten begibt.

Um durch eine scheinbar einfache Abbildung den Anschein der Dokumentation zu erreichen, müsse der Regisseur „besonders raffiniert fälschen“, sagt Amelio 22 Jahre nach Entstehung dieses Films in einem Interview mit der taz. An gleicher Stelle lehnt Amelio es auch ab, seinen Blick hinter die Fassade der Wohlstandsgesellschaft als Neuauflage des italienischen Neorealismus zu etikettieren und sich so im Verbund mit anderen Regisseuren wie Marco Risi oder Nanni Moretti gar als Teil einer neuen „Schule“ zu definieren. Nicht auf die Themen, sondern auf die Sichtweise käme es an, sagt er, und: „Jeder von uns erzählt vollkommen anders.“

Was und wie Amelio erzählt, läßt sich in Gänze jetzt erstmals im Arsenal betrachten, wo die Freunde der Deutschen Kinemathek in Zusammenarbeit mit der Federazione Italiana dei Circoli alle elf Filme des 1945 in Kalabrien geborenen Italieners zeigen. Die meisten von ihnen wurden im Auftrag des italienischen Fernsehens (RAI) produziert und nur in Einzelfällen auf Festivals gezeigt – sicher ein Grund dafür, weswegen Amelio erst seit einigen Jahren internationale Beachtung findet. In Deutschland spricht man von ihm vor allem seit seinem letzten Film „Il ladro di bambini“, der im vergangenen Dezember mit dem Europäischen Filmpreis „Felix“ ausgezeichnet wurde.

Ein Hauptthema der Filme von Gianni Amelio ist die menschliche Beziehungslosigkeit. Im Mittelpunkt stehen meist Kinder wie Jean, Rosetta oder der mathematisch und musikalisch hochbegabte Guido in „Il piccolo Archimedes (Der kleine Archimedes, 1979). Seltsam erwachsen sind diese Kinder, ernst, aber, obwohl sie Anlaß dazu hätten, nicht freudlos. Sie haben ihre Suche nach Liebe noch nicht aufgegeben, glauben irgendwie noch daran, am Ende doch nicht immer allein zu sein – sie sind die Opfer der materialistischen Gesellschaft und gleichzeitig ihre Hoffnungsträger. Dies könnte kitschig sein, ist es aber nicht. Dazu ist das Thema zu elementar und seine örtliche Verankerung zu real: als der kleine Jean mit dem Zug zu dem Platz an der Küste fährt, wo er gefangengehalten werden wird, rauscht er an einem grauen, industrialisierten Norditalien vorbei und klettert über ein Lager von Schiffsschrauben hin zu einem heruntergekommenen Leuchtturm – kein Ort von sentimentalischer Qualität.

Bedrückend nüchtern schildert Amelio in den meisten Filmen die Umgebung. Kitschfeindlich ist auch die Distanz, die er zu seinen Protagonisten wahrt, gerade indem sich die Kamera stets um sie dreht oder auf ihnen ruht. Neben seiner Technik der ruhigen, fast meditativ beobachtenden Einstellung nähert er sich den Personen in seinen Filmen auch gern von verschiedenen Perspektiven. Er versucht nicht, sie durch eine festgelegte Sicht zu objektivieren, sondern bewahrt ihre Subjektivität. Das genau macht die poetische Spannung aus. Selbst seine Großaufnahmen sind diskret und eher als Angebot denn als Fixierung zu verstehen, als Angebot der Kontaktaufnahme zwischen Protagonisten und Zuschauern.

Das Schöne an Amelios Filmen ist auch, daß er das Geschehen momentweise geradezu in Realzeit zeigt. Das vermittelt Authentizität, was erstaunlicherweise nicht langweilt, sondern den Blick schärft für scheinbare Nebensächlichkeiten. Vor der Leinwand sitzend, lernt man zuzuschauen. Ein richtiges Ende haben solche Filme natürlich nicht, sie könnten an fast allen Punkten enden. So verblüfft es meist, wenn es dann tatsächlich soweit ist. Petra Kohse

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