: Festplatz der illegitimen Kultur
■ Die Trabrennbahn Mariendorf wird 80 Von Harry Nutt
In seinem Essayband „Blues für Blondinen“, eine Art Ortsbesichtigung subkultureller Räume, beschreibt der Krimischriftsteller Jörg Fauser auch die Trabrennbahn Mariendorf, wo er während seiner Berliner Zeit als tip-Schreiber Stammgast nicht nur an Renntagen war. Vom Stall-Kasino aus schaute er den trainierenden Pferden zu und sammelte hier die entscheidenden Erkenntnisse für den großen und kleinen Wetterfolg. Fausers Aufsatz befreit auf seine Weise die Rennbahn vom Ruf des Halbweltmilieus, vom dunkeln Ort jener vielzitierten Ganovenromantik mit der Ahnung vom schnellen Glück. Der Mythos vom urbanen Rennbahndschungel entpuppt sich beim näheren Hinsehen als provinzielles Alltagsidyll aus rotwangigen Pferdemädchen und mistbeladenen Schubkarren.
Die Rennbahn war seit jeher ein illegitimer Ort des Volksvergnügens, mal erwirkten die Kirchen ein Sonntagsrennverbot, mal entzog die Regierung aus Angst, die Volksgesundheit könne dem Wettfieber anheimfallen, den Rennbahnen die Totalisatorenerlaubnis. Als am 9. April 1913 die Trabrennbahn Mariendorf die Pferdewetter zum erstenmal in den Berliner Süden lockte, kannten sie bereits eine Reihe anderer Rennplätze. Die Galopper begannen auf dem Exerzierplatz des Tempelhofer Felds, 1868 eröffnete die Hoppegartener Rennbahn mit kaiserlichem Besuch, die Grunewaldrennbahn kam später hinzu, und in Strausberg und Karlshorst wurde ebenfalls galoppiert, zum Teil über Stock und Stein, bei den sogenannten „steeple-chases“, den Hindernisrennen. Besaßen die Galopprennvereine erhebliches gesellschaftliches Ansehen, so bewegten sich die Traber immer am sozialen Rand. Zum einen waren ihre Anhänger und Besitzer einfache Leute, Kleingewerbetreibende, Händler und Bauern, zum anderen bestritt man die Eigenständigkeit der Traberzucht, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus Rußland, Frankreich und Amerika nach Deutschland kam.
Die ersten Trabrennen fanden Ende der siebziger Jahre in Weißensee statt, das erste Derby 1895 wurde in Westend gelaufen, und seit 1909 gab es eine weitere Rennbahn in Ruhleben. Mit der Eröffnung der Mariendorfer Bahn 1913 wollten die Traber endlich auch an die Pforte des Berliner Kulturlebens klopfen. Das zeigt sich schon architektonisch, und der Kunstschriftsteller Karl Scheffler, Schriftleiter der renommierten Zeitschrift Kunst und Künstler kommt zu dem Urteil, daß man erstmals von einer künstlerischen Rennbahnarchitektur sprechen kann. Wohlbegründet, nicht ohne die apodiktische Schefflersche Urteilskraft, kann man die Rennbahnkritik in Kunst und Künstler (11. Jahrgang, 1913) nachlesen, wobei Scheffler nicht zuletzt eine Lanze bricht für den Baumeister August Endell (1871–1925). Dieser hatte einen Ausschreibungswettbewerb gewonnen und sich als völlig rennbahnunerfahren der Aufgabe gestellt, eine Rennbahnarchitektur aus einem Guß zu entwerfen, die zugleich ästhetisch überzeugen und doch zweckmäßig sein sollte. Endell hatte sich bei seiner Arbeit übrigens bereits existierender Vorbilder bedient, so ähnelte die Mariendorfer Bahn durchaus der von Ruhleben und noch stärker der 1910 in Horst- Emscher geschaffenen Galopprennbahn. Endell freilich hat seine Arbeit mit künstlerischer Eleganz vollendet, die leider heute nur noch in Form einzelner versprengter Stallgebäude und der restaurierten ehemaligen Haupttribüne zu bewundern ist. Vor gut 20 Jahren wurde der ornamental ausgeschmückte Zielrichterturm wegen Unzweckmäßigkeit kurzerhand abgerissen. Erst danach wurde die Endellsche Tribüne unter Denkmalschutz gestellt und in ihren Originalzustand versetzt. Es gehört zu den Eigenheiten des Trabrennsports, daß er sich nie sonderlich um seine Historie gekümmert hat, vielleicht wegen der nie ganz aufgehobenen Erfahrung, in der Alltagskultur, ja nicht einmal innerhalb des Sportsystems vollständig anerkannt zu sein.
Dabei hatte man 1913 einen kräftigen Sprung nach vorne gemacht. Die Tatsache, daß sich Karl Scheffler (1869–1951) in der Zeitschrift Kunst und Künstler mit der Rennbahnarchitektur befaßt, bedarf allerdings einer Erklärung. Kunst und Künstler erschien im Bruno-Cassirer-Verlag, und der Namensgeber des Verlags war niemand anderes als der Verleger, Kunsthändler, aber eben auch Rennstallbesitzer und Traberzüchter Bruno Cassirer (1872–1941). Der „Zufall“ wollte, daß Cassirer auch der offizielle Bauherr der Mariendorfer Bahn war und den Architekten August Endell bereits seit seinen Münchener Studienjahren kannte. Dem 1872 in Breslau geborenen Cassirer verdankt die Traberwelt, daß es ein paar Gedichte von Christian Morgenstern, Lektor im Cassirer-Verlag, über Trabrennen ebenso gibt wie die Bemerkung von Alfred Döblin über Cassirer: „Er treibt Verlag und Kunsthandel, gemildert durch Pferdezucht. Vom ersten verstehe ich wenig, vom zweiten weniger und vom dritten gar nichts, aber das Ganze gefällt mir.“
In den ersten Jahren des Jahrhunderts hatte Bruno Cassirer nicht wenig Anteil am Erfolg der französischen Impressionisten in Berlin. Er und sein Vetter Paul Cassirer waren einflußreiche Sekretäre der Berliner „Secession“, die erste Ausstellungen von Manet und Monet in ihrer Galerie zeigte. Max Liebermann und Max Slevogt malten nicht zuletzt wegen ihrer Freundschaft zu Cassirer auf der Rennbahn, und selbst der schweigsame Schriftsteller Wolfgang Koeppen entwickelte zum ebensowenig redseligen Verleger Cassirer via Pferdestall ein freundschaftliches Verhältnis. Bruno Cassirer, der pferdebesessene Verleger und Mäzen, stammte aus einer Breslauer Großkaufleutefamilie und wurde Anfang des Jahrhunderts zum größten Traberbesitzer und -züchter. Er importierte amerikanische Pferde und feierte nationale und internationale sportliche Erfolge. Sein Trainer, der Ire Charlie Mills, wurde zum berühmtesten Trabertrainer aller Zeiten, und Cassirers Pferd Walter Dear gewann als einziges Pferd der gesamten Trabergeschichte die beiden bedeutendsten Rennen der Welt, das amerikanische „Hambletonian“ und den „Prix d'Amérique“ von Paris. Nicht allein durch die eigenwillige Verlegerpersönlichkeit kam der Trabrennsport zu größerer kultureller Bedeutung, die wichtigsten Traberereignisse sahen stets 40.000 Zuschauer und mehr, der Trabrennsport hatte sich für kurze Zeit aus seinem Schattendasein befreit. Man darf in den zwanziger Jahren von einer Blütezeit des Rennsports sprechen, die dieser in Berlin in der Nachkriegszeit nie wieder erlangt hat. Die Zäsur erfolgte 1933. Der Jude Cassirer wurde mit anderen aus seinen Funktionärsämtern verdrängt, die Organe des Rennsports, die Cassirer maßgeblich mit aufgebaut hatte, wurden von den Nazis gleichgeschaltet. Sein Gestüt Lindenhof bei Templin mußte er verkaufen. Cassirer freilich emigrierte erst im Dezember 1938 nach Oxford und starb im englischen Exil im Jahr 1941.
Der Aufschwung des Trabrennsports im Berliner Sportleben und die Emanzipation vom eleganteren Galopprennsport ist eng mit seinem Namen verbunden. Als Funktionär trug der Kunstliebhaber und bibliophile Verleger auch zur Herausbildung eines praktikablen Rennsystems bei, das im großen und ganzen noch heute Gültigkeit besitzt. Zu den begeisterten Traberbesitzern zählte in den zwanziger Jahren der Schauspieler Curt Bois ebenso wie der Sänger Max Hansen und der Komiker Max Pallenberg. Zu einem Ort repräsentativer Kultur jedoch wurde die Trabrennbahn nie. In einer Zeit, wo die Galopprennbahn Hoppegarten wieder in einstigem Glanz erstrahlt und mit Massenbesuch protzt, kämpft man in Mariendorf mit drastischen Umsatzrückgängen. Die vielzitierten Hüte sieht man hier nicht einmal in der Derby-Woche. Achtzig Jahre Mariendorf, das sind auch achtzig Jahre diskreter Charme des Kleinbürgerlichen. „Mariendorf liegt ja mitten in Berlin“, wußte auch schon Jörg Fauser, „und heute abend wirst du wieder drüben im Tribünenhaus sitzen an deinem Tisch oder bei den Rentnern, die nach 30 Jahren immer noch zweifeln, ob Risiko lohnt, und bei den Metzgermeistern mit den dicken Geldbündeln und den Witwen, an deren Tischen die Geister ihrer toten Männer spielen, bei all den armen Schweinen, die sich in diesen Stunden endlich erleben. Du kennst sie gut. Du gehörst dazu.“
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