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Man sieht und weiß

Schöner Reisen: Die neue Reiseführer-Konzeption des DuMont-Verlags besticht mit ihrer üppigen und leicht konsumierbaren Gestaltung  ■ Von Edith Kresta

Pünktlich zur europäischen Vereinigung dürfen die Europäer nun auch die Welt aus einem grenzübergreifenden Blickwinkel genießen, mit einem neuen Reiseführer-Konzept: dem „DuMont- visuell“. Die Idee zu diesem graphischen Wunderwerk stammt von der Edition Gallimard in Paris, die in Zusammenarbeit mit einem spanischen, deutschen, italienischen, britischen Verlagshaus in Europa und darüber hinaus in Japan und den USA diese neue Reiseführer-Konzeption produziert. Die nicht gerade billigen Bücher (48 DM) sollen unseren veränderten Seh- und Reisegewohnheiten Rechnung tragen und außerdem eine „ganzheitliche Weltsicht“ gewähren. Denn, so der deutsche Partner-Verlag DuMont: „Die phantasievolle Abstimmung von Inhalt und visueller Gestaltung ermöglicht das mühelose Verständnis auch komplexer Zusammenhänge im Augenblick des Sehens.“ So leicht ist es also schon, die Welt zu verstehen.

Und in der Tat bringen uns im jüngst erschienenen DuMont-visuell „Venedig“ schöne Bilder und Graphiken mit kurzen Texten die Flora und Fauna der Lagunenstadt genauso plastisch näher wie die Gondeln, den Markusplatz, das Venedig in der Literatur oder Malerei, bis hin zu den typisch venezianischen „Sardinen in Marinade“. Das stattliche Buch besticht mit einer aufwendigen graphischen Gestaltung, üppig und überaus abwechslungsreich: bis zu sieben graphische Elemente auf einer schmalen Seite. Historische Fotos, Zeichnungen, Pläne, dokumentarisches Material wie Portraits, Werbeplakate, alte Stiche, Straßenschilder etc. regen die Phantasie zu Geschichte und Kultur der Lagunenstadt an und sind eine Augenweide. Die dementsprechend sparsam gehaltenen Texte geben im Stakkato-Stil die aufs wesentlichste reduzierte Information: „Musetto – kleines Einmannboot zum Fischfang in der Lagune“ oder „die Löwen der Serenissima – um ihre Gebietsansprüche zu unterstreichen, pflegten die Venezianer auf jede ihrer Besitzungen einen geflügelten Löwen, das Symbol der Republik, aufzustellen. So empfängt den Besucher bei der Ankunft in Chioggia der Markuslöwe“. Komprimierte Kurzinformation, bei der auch die aktuellen Probleme Venedigs nicht ganz unerwähnt bleiben. In der visuellen Bilder- und Faktenflut haben sie allerdings den gleichen Stellenwert wie die „Fische der Lagune“.

Vorbei die Zeit der Bleiwüsten und der drögen bürgerlichen Kulturausflüge, statt dessen besinnungslose Vielfalt. Das Thema Kultur läßt sich nun auch bei DuMont auf die Niederungen des Alltagslebens ein: neben bildender Kunst, Architektur und Literatur geht es auch um „kunsthandwerkliche Traditionen“ und „Völkerkunde“. Die Welt zum Greifen nahe, sinnlich erlebbar und unterhaltsam. Genau das richtige, um für wißbegierigen Anhang bei Ausflügen jederzeit die richtige Antwort parat zu haben und mit nebensächlichem Faktenwissen die frisch Angetraute noch mehr zu beeindrucken. Selbst die vielen Katzen Venedigs werden in Wort und Bild gewürdigt: „In Venedig leben Tausende von Katzen. Es gibt sogar eine internationale Organisation zu ihrem Schutz,“ steht unter dem Foto mit Katze auf Fenstersims. Im Restaurant können Sie nun selbstbewußt erklären, daß der Fisch, den Sie gerade verspeisen, „die begehrte und schmackhafte Meeräsche“ ist, die „70 cm lang wird“, und bei der Gondelfahrt wissen Sie schon mehr über „Rudertechnik“ und „Kastenwesen“ der Gondoliere. Geschichte und Histörchen für den angeregten Streifzug durch die Stadt, aus einem anregenden Reiseschmöker. Dieser sprengt den alten DuMont- Slogan: „Man sieht nur, was man weiß“, und setzt dafür zeitgemäß: „Man sieht und weiß“.

Sinnliche Bilder statt schwerfälligem Tiefgang, den man beim Kurztrip oder in den Flitterwochen in Venedig ohnehin nicht will: die bürgerliche Bildungsbeflissenheit macht dem Zeitgeist Platz und statt inhaltsgeschwängerter Beziehungen sind nun leicht verdauliche Seitensprünge angesagt. Der „qualitative“ Sprung, den der Verlag in diesen Büchern sieht, liegt, so Verlagsleiter Daniel Bücher, „in ihrer großen Themenvielfalt... Mich fasziniert an unserem neuen Führer, daß er sich an alle Altersstufen wendet und auch von den Bildungsvoraussetzungen her niemanden ausschließt.“ Ganzheitlich, informativ und für alle, so die DuMont-Marketingstrategie für das neue Konzept.

Eine Reiseführerwundertüte also, klassenlos und breit, die darüber hinaus auch noch unterhaltsam und schön anzuschauen ist? Ein Buchkonzept jedenfalls, das unseren fernsehgeschulten Augen nicht nur mit seiner üppigen Bilderflut schmeichelt: Der zum Betrachter werdende Leser kann sich darüber hinaus, ohne jemals den Anschluß zu verlieren, von Seite zu Seite zappen. Ein Videoclip, als Reiseführer getarnt, das für sich einzunehmen versteht. Rein visuell. Und obendrein ein erfolgversprechender Schulterschluß mit unseren neuen Reise- und Sehgewohnheiten: schneller, abwechslungsreicher, oberflächlicher und immer mehr.

Venedig, DuMont-Verlag, Köln 1993, 463 Seiten, 48 DM

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