■ Nur wenige Informationen dringen aus den russischen Nuklearwaffenschmieden. Nach dem schweren Atomunfall im Tomsk-7 wiegelt die Moskauer Atombehörde ab: Im Vergleich zu Tschernobyl sei die Strahlenbelastung harmlos.: „80 Millionen mal weniger ernst“
Auch wenn der Run auf die Milchpulverlager ausbleiben kann, hat der schwere Atomunfall von Tomsk weitaus gravierendere Folgen, als die russischen Behörden zunächst zugaben. Inzwischen wird in Moskau eingeräumt, daß mindestens 200 Quadratkilometer Land nordöstlich der geheimen Atomanlage von Tomsk verseucht sind. Obwohl die Verseuchung angeblich nur gering ist, wurden die Straßen gewaschen, kontaminierter Schnee und verstrahlte Erde abgetragen. Die Strahlung in der Nähe des Unfallortes verlangt eigentlich nach einer Evakuierung.
Der Sprecher des russischen Atomministeriums Greogori Kaurov hatte gemeint, man könne den Unfall keineswegs mit Tschernobyl vergleichen. „In Tschernobyl sind ungefähr 80 Millionen Curie an Radioaktivität freigeworden (ein Curie = 37 Milliarden Bequerell, d. Red). Hier war es jetzt noch nicht einmal eines. Es ist also 80 Millionen mal weniger ernst.“ Die russischen Behörden stuften den Unfall in die Kategorie drei der internationalen Atomunfallskala ein: Ernsthafter Zwischenfall mit der Freisetzung harmloser Radioaktivitätsmengen.
Strahlenmeßwerte, die nach gleichfalls russischen Berichten im 22 Kilometer von der Unglücksanlage entfernten Ort Georgijewka gemessen worden sind, deuten jedoch auf erheblich höhere Freisetzungen hin, als Kaurov zugibt, so Christian Küppers vom Darmstädter Öko-Institut. „Nach den Kriterien, die man nach Tschernobyl in Rußland angelegt hat, sind bei der Belastung auch Orte 11 Kilometer von der Unglücksstelle entfernt noch umzusiedeln.“ Die Einstufung drei sei in jedem Fall falsch.
Während die Halbmillionenstadt Tomsk der radioaktiven Wolke durch günstiges Wetter offenbar weitgehend entgangen ist, gibt es nach wie vor keine Berichte über Verstrahlungen in der 1954 gegründeten Geheimstadt Tomsk-7 selber. Direkt am Ort waren immerhin gefährliche 0,4 Röntgen pro Stunde gemessen worden. Immerhin wohnten in der 200 Quadratkilometer großen Stadt, von der es keine Karten gibt, Ende der achtziger Jahre rund 110.000 Menschen, Männer, Frauen und Kinder.
Unklar ist auch nach wie vor, wo die radioaktive Wolke abgeblieben ist, nachdem russische Militärs sie am Dienstag nordwestlich der Atomanlage entdeckt hatten. Sie trieb mit 36 Stundenkilometern Geschwindigkeit in Richtung auf den Fluß Jenesej. Zahlreiche Dörfer und eine Kleinstadt mit 23.000 Einwohnern lagen in der Richtung.
Immer mehr Hinweise gibt es inzwischen über den Ablauf des Unglücks. (siehe nebenstehendes Interview) Küppers meinte, wenn der Unfallhergang tatsächlich so sei, wie es sich jetzt aus den vorhandenen Informationen ergebe, handele es sich bei der Explosion um ein aus dem Betrieb von Wiederaufarbeitungsanlagen bekanntes Phänomen. Ein solcher Unfall sei erstmals 1953 in einer militärischen Wiederaufarbeitungsanlage in den USA vorgekommen. Seither bemühen sich die Wissenschaftler um eine genauere Erklärung, was physikalisch passiert. „Das hat uns auch bei den Genehmigungsverfahren für die WAA in Wackersdorf beschäftigt“, so Küppers. Hermann-Josef Tenhagen
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