: Zweite Blüte am Tor zur Antarktis?
Im Himmel über Punta Arenas, südlichste Stadt der Welt, wird die schützende Ozonschicht bedrohlich dünn. Vom Öko-Effekt erhoffen sich manche Südchilenen einen neuen Aufschwung ■ Aus dem Ozonloch Astrid Prange
Bedrich Magas pflegt seine Besucher von unten nach oben zu mustern. Der Elektroingenieur aus Punta Arenas betreibt seit fünf Jahren Ozonlochstudien auf einem zerschlissenen Stuhl mit abgesägten Beinen. Aus dieser herabgesetzten Perspektive heraus beschimpft er die Welt – seine Akademikerkollegen von der Magellan-Universität, die Regierung sowie die internationale Chemieindustrie. Kurz bevor er in seinem Sechs-Quadratmeter-Verschlag an der Universität wieder einmal an der Weltordnung verzweifelt, legt er seine Lieblingskassette ein: Nenas „99 Luftballons“.
„Sind Sie schwarz?“ verblüfft er die angeblich vierundsechzigste Journalistin aus Europa, die ihn nach den Auswirkungen des Ozonlochs befragt, das sich jedes Jahr im chilenischen Frühling von September bis Dezember über der Antarktis öffnet. Der rothaarige Magas sieht sich schon als Versuchskaninchen für Hautkrebsexperten. „Die Pigmentierung ist die erste natürliche Anpassung, weiße Menschen sind zuallererst dran“, prophezeit er.
Magas ist entnervt. Einwände von Kritikern, wonach die Bevölkerung in Haiti wesentlich stärker den schädlichen ultravioletten Strahlen ausgesetzt sei als die Einwohner von Punta Arenas, kann er nicht mehr hören: „Wenn es in Acapulco im Sommer schneit, sterben die Leute nicht, und dennoch ist dies ein Grund zur Besorgnis“, stellt er klar. Und außerdem: „Die Einwohner von Punta Arenas sind weiß und laufen nicht im Blumenröckchen wie auf Haiti herum.“
Aber was ist nun mit dem Ozonloch? Verursachen die UV-Strahlen, die drei Monate im Jahr ungefiltert auf die rund 125.000 Einwohner von Punta Arenas hinabbrennen, wirklich Hautkrebs, Blindheit und Schwächen im menschlichen Immunsystem?
Ozonloch, Sommer, Herbst und Winter
Juan Enrique Morano Cornejo, Staatssekretär der zwölften Region Chiles, zu der Punta Arenas gehört, schüttelt den Kopf. „Die Sonnenstrahlen sind nicht gefährlich. Ihr Winkel hier am 53. Breitengrad ist zu schräg“, ist der Regierungsbeamte überzeugt. Die Leute würden sich daran gewöhnen, genauso wie sie mit den eisigen Temperaturen im Winter oder den orkanartigen Stürmen im Sommer zurechtkämen.
Victor Valderrama, Vorsitzender der dreiköpfigen Umag-Kommission zur Erforschung des Ozonlochs, sieht ebenfalls keinen Grund zur Beunruhigung. „Unter normalen Bedingungen“ sei die Ozonschicht über Punta Arenas „ziemlich dick“, jedenfalls größer als in tropischen Breitengraden. Sein Kollege Felix Zamoramo: „Über die Konsequenzen des Ozonlochs sind bis jetzt keine sicheren wissenschaftlichen Aussagen möglich.“
Die im Juni 1992 gegründete Ozonkommission ist nach Angaben von Physiker Zamoramo die einzige chilenische Gruppe, die sich mit dem Phänomen und seinen Auswirkungen auf das Land zwischen Anden und Pazifik beschäftigt. Mit einem vom brasilianischen Raumfahrtinstitut „Inpe“ ausgeliehenen „Brewer Ozone Spectrokolometer“ zeichnet die kleine Truppe die Schwankungen in der Ozonschicht sowie die Intensität der UV-Strahlen auf. Im Oktober 92 nahm das Ozonloch über der Antarktis nie zuvor gekannte Ausmaße an. An seinen Ausläufern, die erstmals Punta Arenas erreichten, stieg die Intensität der UV-Strahlen um 200 Prozent.
Je größer der Riß in der schützenden Ozonschicht, desto ausgeprägter die Feindschaft zwischen Bedrich Magas und dem von offizieller Seite unterstützten Forscherteam. Magas, von der regionalen Verwaltung als „Öko-Terrorist“ gebrandmarkt und von jeglichen Forschungsvorhaben ausgeschlossen, bekämpft die offizielle Politik verzweifelt mit einem automatischen Anrufbeantworter.
Die täglich neu aufgezeichnete Nachricht seines Info-Telefons hört sich folgendermaßen an: „Sonnenbrandindex in Punta Arenas, registriert an der Magellanuniversität, am 27.10.: Akute Verbrennungsgefahr zwischen 14.00 und 14.30 Uhr. Vorsichtiges Verhalten zwischen 10.30 und 16.30 Uhr empfohlen... Warnung: Die Schäden ultravioletter Sonneneinstrahlung sind kumulativ!“
Juan Cornejo wertet Magas' Info-Telefon als unnötige Panikmache. Zwar räumt er neuerdings ein, daß es sich bei dem Ozonloch um ein „echtes Problem“ handele, doch deswegen sei es doch nicht notwendig, gleich die ganze Bevölkerung in Alarm zu versetzen. Das Aufklärungsmaterial der Regierung beschränkt sich bis jetzt auf ein – vergriffenes – Flugblatt.
„Wenn die schützende Schicht über New York oder Frankfurt zerstört würde, sähe die Sache anders aus“, vermutet Magas. Punta Arenas sei die größte menschliche Ansiedlung unter dem Ozonloch, einziger Platz der Welt, an dem die Ozonwerte kontinuierlich abnähmen. Das „Tor zur Antarktis“ könnte Hamburg oder Amsterdam um zehn Jahre Forschung voraus sein.
Trotz dieser einzigartigen Umstände beschäftigt sich in Punta Arenas nur ein Dermatologe mit den Folgen stärkerer UV-Einstrahlung für die menschliche Haut, und dies auch nur nebenbei. Jaime Abarca bekommt durchschnittlich zehn neue Hautkrebspatienten pro Jahr. Einen direkten Zusammenhang zwischen der steigenden Hautkrebsrate und dem Loch mag Abarca dennoch nicht herstellen. „Die biologischen Konsequenzen höherer UV-Strahlen kann man zuallererst an uns ablesen. Deshalb verdient jede Art von zusätzlicher Forschung in Punta Arenas weltweite Aufmerksamkeit“, kommentiert der Arzt vorsichtig.
Nicht vorsichtige Ratschläge jedoch, sondern rasches Handeln erscheint nötig. Schließlich lieferten die beiden US-Chemiker Sherwood Rowland und Mario Molina von der „University of California“ bereits 1974 die Erklärung für das Jahre später „entdeckte“ Ozonloch: Sie stellten die These auf, daß die auf der Erde als stabil geltenden FCKW-Gase in der Stratosphäre durch UV-Sonnenstrahlen zersetzt würden. Bei dieser chemischen Reaktion wird reines Chlor freigesetzt, das das Ozongas der Atmosphäre in einzelne Sauerstoffmoleküle aufspaltet. 1986 wurde die These von der US- Raumfahrtbehörde Nasa bestätigt.
Die freigesetzten Chloratome richten auf der Südhalbkugel mehr Schaden an als im Norden. Der Grund: Am Nordpol sind die Temperaturen nicht ganz so eisig wie im Süden. Nur in der Antarktis führt die extreme Kälte zur Bildung von Eiswolken in der Stratosphäre, die den Chloratomen beim Überwintern helfen. Sobald die ersten Sonnenstrahlen im Frühling die feste Oberfläche zum Schmelzen bringen, starten die Chloratome zum Angriff auf die Ozonschicht.
All das läßt Staatssekretär Juan Cornejo kalt. „Punta Arenas als zweites Tschernobyl?“ Wenn dadurch der Bekanntheitsgrad der Stadt am Ende der Welt steigt, ist ihm das auch recht. Nachdem die Erdölvorräte allmählich versiegen, die Qualität der Kohle im Tagebau sinkt und die Ergebnisse des Fischfangs jährlich magerer ausfallen, wird Tourismus als Einnahmequelle immer wichtiger. Das Geschäft läuft bereits auf vollen Touren: 1991 besuchten etwa 120.000 Europäer und US-Amerikaner das „Tor zur Antarktis“, im vergangenen Jahr schon 160.000.
„Die Stadtverwaltung meint, sie vertreibt die Touristen, wenn sie darüber redet“, erklärt Alfredo Fonseca, Vorsitzender von „Fide XII“, einer der wenigen Nicht-Regierungsorganisationen vor Ort. Dabei sei genau das Gegenteil der Fall. „Wir brauchen mehr Meßgeräte und Aufklärung. Eltern müssen wissen, wie sie ihre Kinder schützen können.“
Das Beste für Punto Arenas seit dem Panamakanal
Auch der Matrose Alberto Aranda Albornoz hat Angst und pocht dringend auf Information. Doch der 31jährige, der seit fünf Jahren in südchilenischen Gewässern Kabeljau und Silberhecht für den Export ranschafft, ist der einzige der Besatzung, der schon einmal davon gehört hat.
„Was zählt, ist Geld und Arbeit“, weiß Alberto. Nach 50 Tagen auf hoher See kehrt das Boot mit durchschnittlich 30 Tonnen Fischfang in den Hafen von Punta Arenas zurück, wo die Beute sofort nach Spanien verladen wird. „Vor fünf Jahren haben wir in dreißig Tagen über 150 Tonnen Fisch gefangen“, erinnert sich der Matrose.
In der Magellanstraße, an der Punta Arenas liegt, schwimmen heute überhaupt keine Fische mehr. Die im Jahr 1520 von dem portugiesischen Seefahrer Ferdinand Magellan entdeckte Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik ist durch Erdölindustrie und Haushaltsabwässer völlig verdreckt. Selbstverständlich ist auch das Baden verboten, doch bei den eisigen Wassertemperaturen ist die Neigung der Einwohner von Punta Arenas selbst im Sommer dazu nicht besonders ausgeprägt.
Die Verkäuferin in dem Wolladen neben der Kirche, sich ihres krisensicheren Jobs wohlbewußt, läßt sich von alldem nicht aus der Ruhe bringen. Die Sache mit dem Ozonloch sei so ähnlich wie der Falklandkrieg 1982, meint die Frau: „Damals hat die ganze Welt sich aufgeregt, doch wir sind ruhig geblieben. Wir waren sicher, daß uns nichts passieren würde“, erinnert sie sich.
Die Strickerin gehört zu der großen Kolonie von Kroaten, die rund ein Drittel der Einwohner der Stadt ausmacht. Angezogen vom Goldrausch um die Jahrhundertwende, ließen sich damals Tausende von jugoslawischen Einwanderern am Rande der Antarktis nieder. Heute arbeiten die Nachkommen der Goldgräber und Abenteurer als Schafzüchter und Wollexporteure.
Eigentlich war schon damals die Blütezeit von Punta Arenas vorbei. Denn 1914, als die Eröffnung des Panamakanals die Umschiffung des amerikanischen Kontinents mit einem Schlage überflüssig machte, verlor auch der Handelsknotenpunkt Punta Arenas seine Wichtigkeit. „Noch nicht einmal Junggesellen wollen hier leben“, flucht Lokalreporter Andres Vidal. In Punta Arenas sei alles teurer, kulturelles Leben gäbe es nicht, und jetzt kämen auch noch die UV-Strahlen hinzu. Der Journalist aus Concepción wurde aus beruflichen Gründen ans Ende der Welt geschickt und sitzt bereits auf gepackten Koffern.
Nicht so Bedrich Magas. Der aufsässige Kroate ist in den eisigen Kontinent vernarrt. Bereits zweimal hat er die Drachenpassage Richtung Antarktis durchquert. Die überwältigenden Eindrücke von Eisbergen, Seelöwen und Pinguinen lassen ihn nicht mehr los. „Noch ein paar Jahre, dann werden sich die Leute um einen kalten Ort wie Punta Arenas reißen“, grummelt er in seinen roten Bart hinein. Beschert also ausgerechnet das Ozonloch der Stadt am Ende der Welt eine zweite Blüte?
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