: Mit Glamour ummäntelt
Theaterspektakel sollen im Osten das verlorene Publikum zurückerobern ■ Von Arnd Wesemann
„Meine sehr verehrten Damen und Herren“, hebt der gepuderte Blondschopf an, „wir laden Sie heute ein, an einem ganz besonderen Ereignis teilzunehmen.“ Der Conferencier lächelt, das Kleid seiner hübschen Assistentin funkelt und glitzert, das Publikum ahnt und erschauert: Es wird an einer dieser Gameshows teilnehmen, die es aus dem Fernsehen kennt ... Doch im pomadigen Glanz des jungen Schauspielers, in der fiepsigen Stimme der Moderatorin schimmert Ironie. Es wird Theater bleiben und die Kandidaten, da sich niemand aus dem Publikum meldet, werden von Hospitanten und Assistentinnen gestellt.
Die Freien Kammerspiele Magdeburg rufen rund viermal im Jahr zum Spektakel, das Publikum kommt, fleezt sich dankbar in eine Wohnzimmerecke mit Sofa, Sideboard und Fernseher. Im Regal steht der Ausverkauf der ehemaligen Ostliteratur, auf dem Tisch liegt Knabberzeug, das Volk trinkt Bier, schaut fern. Erholt sich im Theater von Theater.
Rund hundert Kilometer südlich, am Leipziger Schauspielhaus, erscheint das Duplikat des hochgewachsenen Moderators auf der Bühne. „Meine sehr verehrten Damen und Herren“, hebt der gepuderte Blondschopf an, „wir laden Sie heute ein, an einem ganz besonderen Ereignis teilzunehmen.“ Der Moderator schmalzt, die Pomade trieft, ein Fernsehballett singt und tanzt den Alabama-Song aus Bertolt Brechts „Mahagonny“ – in Leipzig wird Brecht mit Glamour ummäntelt. Vergnügt pfeift das Publikum in Abendrobe die allbekannten Brechtsongs mit.
Ein großangelegtes Spektakel, das samt „Dreigroschenoper“ unter dem Titel „Von Menschen und Haien – ein Gangsterspektakel“ Premiere hat, muß auf die Leipziger wie eine Art Sonderangebot wirken.
Der Wiedererkennungseffekt ist bei Brecht hoch: sein Ausverkauf zum 95. Geburtstag im Foxtrott-Takt läßt das Publikum scharenweise strömen. Brecht ist einer der wenigen Ost-Artikel, der sich nicht nur richtig aufpeppen läßt. Er verfügt auch über den besonderen Vorteil einer dialektischen Botschaft: Mit Brecht kann man den Kapitalismus ebenso kritisieren wie feiern. Da dem Leipziger Schauspiel der Sinn nach Volksfest steht, wird seiner berühmten „Dreigroschenoper“ zwar noch eingeräumt, daß aller Kapitalismus räuberisch ist, doch vor allem muß er Spaß machen.
Zu einem so unbedingten Vergnügen gehört zu dem Theater- Volksfest natürlich eine Marketing-Abteilung. Bertolt Brecht, ein Markenartikel mit eingebauten Anleitungen zum wahren Verhalten im Kapitalismus, konnte sich der besonderen Unterstützung bei fast allen betuchten (Neu-)Bürgern der Stadt erfreuen. Denn Brecht, gespielt als wohliger Kompromiß zwischen Abwicklung und volkseigener Kultur, gehört beiden Seiten: dem kritischen Kapitalismus ebenso wie dem hedonistischen Sozialismus.
In den Foyers des Leipziger Theaters prangt Werbung ohne Ende. „Mövenpick“ spendiert ein Eis, „Paulaner“ ein Bier. Alle freuen sich, da es sich um ein großes, schauriges Gangsterspektakel handelt; die Geschäfte in der Leipziger Fußgängerzone haben ihre Schaufenster mit einer Ratte im Trenchcoat vollgestellt, dem Sinnbild ihrer Zeit, das auf das achttägige Brecht-Spektakel Anfang April hinweist. Das Leipziger Allerlei Brecht besteht vor allem aus Show (angereichert mit Alfred Jarrys „Ubu Roi“) und verfügt über ein magerschönes Fernsehballett.
Das Theater als Volksfest feiert auf numerierten Sitzen. Dennoch wird B.B.s pädagogischer Effekt nicht unterschätzt, vor allem nicht seine zynisch-sorgsame Art, die Mechanismen des großen Geldes modellhaft an Hand des Verhaltens kleiner Leuten zu erklären. Sein Einakter „Lux in Tenebris“ – eines von zahlreichen Showprogrammen – handelt vom Modell des Kartells: Herr Paduk (Dieter Bellmann) zeigt gegenüber einem Bordell eine Show, in der die Auswirkungen von Syphilis und ähnlichen Trippern recht ekelig demonstriert werden. Entsprechend gehen die Geschäfte im Bordell vis à vis schlecht. Paduks Kritik verjagt dort die Kundschaft – und damit auch seine eigene. Als Lehrstück vom großen Einverständnis bilden Herr Paduk und die Bordellbesitzerin (Anette Straube) ein Kartell. Paduk gibt seine Tripper-Show auf, wird Teilhaber und eröffnet, unter dem Mäntelchen der Sexualaufklärung, ein Pornokino.
Einst eine Parabel, schaut Brecht nun aus, als gäbe er den übriggebliebenen Montagsdemonstranten einen Wink mit dem Zaunpfahl: Macht aus eurem anhaltenden Protest ein Geschäft. Hier in Leipzig begann die Wende, hier investierten die Kapitalisten zuerst. Gegen wen also wollt ihr demonstrieren, wenn ihr die Investoren vergrault? Macht ihnen klar, daß eure Revolution viel Geld kostet. Ganz Leipzig im Gangsterfieber. Ganz Leipzig? Nein, nicht ganz. Mercedes Benz hat als einziges Sponsorunternehmen Brecht wirklich gelesen und trägt das seine bei zu Brechts Dialektik des Kartells: Mercedes Benz wirbt im Schauspiel Leipzig – wohl einmalig in der deutschen Werbegeschichte – für einen knallroten Ford Fiesta ... Dafür leuchtet der Stern nur um so heller überm Zuschauerraum ...
120 Kilometer nördlich in Magdeburg glänzt und glitzert rein gar nichts, stehen auch keine Bürger in Schlips und Anzug bereit, um bei Champagner ein aufwendig produziertes Spektakel des Asozialen zu genießen. Hier erscheint Brecht nicht als der größte Wendehals von allen.
In Magdeburg herrscht im Gegenteil der Geist der Dialektik strenger, anarcher und – weitaus komischer. Die Magdeburger Freien Kammerspiele sind ein Kind der Wende. Gegründet auf Initiative von Schauspielschülern, schlug sich die junge Bühne weder mit Abwicklung noch mit personellem Ballast herum. Vergleichbar mit Tübingen oder Erlangen, betreiben die Magdeburger ein Theater auf hohem schauspielerischen Niveau mit geringen finanziellen Mitteln. Das Kritikerhäuflein, das die Kammerspiele um sich scharen, reist aus der ganzen Republik an – nur das Publikum wartet ab, halbe Preise gibt es erst am Tag nach der Premiere.
Spektakel finden in Magdeburg rund viermal im Jahr statt, eine Mischung aus allem: diesmal „Orestobsession“ von Stefan Schütz in deutscher Erstaufführung, danach Butoh-Tanz, eine Ausstellung über Tattoos, eine Frau sitzt strickend im Glaskasten. Es gibt Tralala, eine Gameshow über den Sinn des Lebens im Foyer, eine Trommelsession – und als Höhepunkt des vergnüglich-lockeren Theaterfestes die Uraufführung von Stefan Schütz' „Wer von euch“.
Es ist ein Stück für zwei Zirkusclowns. Sie jonglieren mit Anspielungen auf die Abwicklung in einer Sprachdichte, die dazu neigt, ein Betroffenheitspamphlet anläßlich des Todes von Schütz' Eltern und poetischer Surrealismus mit politischer Pikanterie zugleich zu sein. Die Freitreppe auf der Bühne ist – wie in der Leipziger „Dreigroschenoper“ – Hollywood. Zu ihren Stufen sterben die Überväter, Honecker memoriert als Schauspieler seine alte Rolle im Lagertheater, Lager DDR oder Lager Theresienstadt. Der Witz ragt spöttisch unter dichtem Bedeutungspotpourri hervor – ein Verdienst von Bunges Regie und der grandiosen Schauspieler Andreas Herrmann und Thomas Dehler, die das Gelächter bohrend herauspuhlen.
Im dichten Textgewebe spinnt sich der surreal-komische Reigen vom Tod als Tod aller politischen und sozialen Leitfiguren. Kein trister Grabgesang, sondern ein Totentanz mittelalterlicher Prägung, der alle Sehnsüchte, alle Utopie mit höhnischem Gelächter fahren läßt.
So wird aus dem Theater ein Jahrmarkt mit Spielbuden, das Foyer gleicht Brechts Diktum vom Genuß, Theater nur beim Rauch einer Zigarre behaglich erleben zu können. Die Spielshow, der gepuderte Blondschopf, seine glitzernde Assistentin sind die guten Trabanten des intelligenten Vergnügens: Stefan Schütz läßt in „Wer von Euch“ zur großen Verlosung bitten, zum Hauptgewinn, einer Reise mit der Zeitmaschine in die Zukunft.
Wer sie gewinnt, kann heute schon wissen, was morgen gefragt ist. Er wird spekulieren können, alle austricksen, wird stets in das richtige System, die richtige Aktie investieren können. Doch die Zeitmaschine ist gar keine, sondern bloß eine Mikrowelle. Der Gewinner des großen Loses wird als Broiler gebraten — und verzehrt. Nach dem Stück fahren heiße Würstchen auf.
Bei Schütz werden alles und alle verzehrt – in einem sprachgewaltigen Treiben, das einem sehr einfachen Muster folgt: alle Muster, Vorgaben, Leitbilder abzulehnen. Ihm gelingt eine Sorte Anarchie – die der Marx Brothers: aus einer exzellenten, versteckten, dafür um so impulsiver auftreibenden Komik. So handelt auch die Gameshow vom Sinn des Lebens, die Dramaturgie ist noch nicht vom Kulturmanager abgelöst worden. Die Marketing-Abteilung regiert bisher nicht in das Defizit der Theaterhaushalte hinein – und wird es in Magdeburg in absehbarer Zeit auch nicht nötig haben.
Der Bedarf an solchen Spektakeln aber steigt enorm. Bürgernähe geht vor Kunstanspruch, Sponsoren sehen auf der Bühne viel Handwerk und harte Arbeit, dafür wenig Kunst. Experimentellere, glücklichere Spielformen, wie in Magdeburg, scheinen in Leipzig – in den Klauen seiner geschäftssinnigen Bürger – undenkbar. Auch die Schauspieler erhoffen sich mehr vom Volksfest als von reiner Bühnenkunst: Bei einer 70-Stunden-Woche, 1.650 Mark Gage ohne Kündigungsschutz und acht offiziell freien Tagen im Jahr kein Wunder. Wären sie echte Entertainer, verdienen sie weit mehr als im Normalvertrag Solo einer Ostbühne.
Vielleicht verscherbelt der eine oder andere Leipziger Schauspieler schon morgen bei Horten mit Erfolg Karottenschäler oder Autopolitur, während seine Magdeburger Kollegen noch immer in Kunst machen.
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