Förderung neuer Geschichtslegenden

■ betr.: "Den Ballast hinter sich lassen" von Sonja Margolina, taz vom 26.3.93

betr.: „Den Ballast hinter sich lassen“ von Sonja Margolina,

taz vom 26.3.93

Mit Verwunderung las ich das Plädoyer von Frau Margolina für die Befreiung vom Ballast der Geschichte, ihre Polemik gegen die sogenannte „Öffentlichkeit“, die sich durch das ständige Erinnern an Auschwitz und seine Einmaligkeit „geistig sterilisiert“.

Daß man sich in Deutschland jahrzehntelang genau über das Gegenteil beklagte – über die Verdrängung dieser Erinnerung, die vor allem unmittelbar nach dem Krieg vielfach zu einer emotionalen Erstarrung geführt hatte –, läßt Frau Margolina völlig außer acht. Daß die Generation der 68er sich mit einer solchen Wucht der Trauerarbeit zu widmen begann, hatte nicht zuletzt mit der bei ihren Eltern so verbreiteten „Unfähigkeit zu trauern“ zu tun. Diese intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte entsprang einem tiefen inneren Bedürfnis und war keineswegs das Ergebnis einer staatlich gelenkten Propagandakampagne, wie dies die Autorin suggeriert.

Am Beispiel der ehemaligen Sowjetunion sieht man, zu welch verheerenden Folgen die von Frau Margolina befürwortete Abschüttelung des Ballastes der Geschichte führen kann. Anders als im Deutschland der Nachkriegszeit handelte es sich in der UdSSR bei dieser Abwendung von der eigenen Geschichte um einen staatlich verordneten Prozeß. Die Erinnerung an den „Archipel Gulag“ wurde von den Nachfolgern Stalins der Bevölkerung nur in kleinen Dosen verabreicht. Man operierte mit „Halb- und Viertelwahrheiten“. Die Rede Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU vom Februar 1956, in der er mit Stalin radikal abrechnete, ist in der Sowjetunion erst 33 Jahre später, bereits während der Perestroika, veröffentlicht worden.

Die Befreiung vom „Ballast der Geschichte“ führt keineswegs zu einer Verlagerung des Interesses der Öffentlichkeit auf die von Frau Margolina so verherrlichte politische Praxis, auf die Gegenwart, sondern fördert lediglich die Entstehung von neuen Geschichtslegenden. Frau Margolina ist zum Opfer einer solchen Legende geworden, indem sie unkritisch die Thesen von Ernst Nolte vom Nationalsozialismus als einer Art Reaktion auf den Kommunismus und auf die kommunistische Bedrohung übernimmt. Es ist ihr anscheinend unbekannt, daß die sogenannte „kommunistische Bedrohung“ für die NSDAP lediglich einen Popanz darstellte, mit dessen Hilfe sie an die Macht gelangen wollte.

Wie sah die „kommunistische Bedrohung“ in Deutschland nach 1918 konkret aus? Sie reduzierte sich bekanntlich auf einige schlecht vorbereitete Aufstandsversuche, die jeweils mit einem Debakel endeten (Januar 1919, März 1921, Oktober 1923). Im Frühjahr 1933 ist die so „gefährliche“ KPD von den Nationalsozialisten mit einem Federstrich ausgelöscht und liquidiert worden. Gegenüber seinem soeben geschlagenen Gegner hatte Hitler nichts als Verachtung übrig. Im Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Berlin, Chintschuk, im April 1933 sagte er: Die KPD und die SPD hätten sich als außerordentlich schwach erwiesen. Sie hätten auch keine bedeutenden Führer in ihren Reihen gehabt. Wenn er, Hitler, an der Spitze der KPD und der SPD gestanden hätte, wäre der Kampf ganz anders verlaufen.

Der konservative Kritiker Hitlers, Hermann Rauschning, fügte 1938 hinzu: „Kein Schicksal ist dem Deutschen Reich 1932/33 ferner gewesen als eine bolschewistische Revolution, ja auch nur eine politische Revolte von links! Gerade die Kreise, die heute die Legende von dem unmittelbar bevorstehenden bolschewistischen Umsturz verbreiten, wissen es am besten..., daß in Deutschland ein Putsch nur mit der legalen Macht als Rückhalt im Hintergrund möglich war.“

Wenn es nicht die deutschen Kommunisten waren, so war es vielleicht die Sowjetunion, die bei den Nationalsozialisten derart panische Reaktionen hervorrief? Wurde vielleicht Auschwitz aus Angst vor dem sowjetischen Gulag, als Reaktion darauf errichtet? Auch das ist wenig wahrscheinlich. Verächtliche Bemerkungen Hitlers über die „slawischen Untermenschen“, denen jeglicher staatbildender Instinkt fehle, sind ausreichend bekannt. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen galt die UdSSR in Europa keineswegs als Militärmacht ersten Ranges. Sie mußte sich mit dem Wegfall zahlreicher Provinzen des ehemaligen Zarenreiches abfinden und war nicht in der Lage, ihre territorialen Ansprüche, auch gegenüber den Mächten mittelerer Größe wie z. B. Rumänien oder Polen durchzusetzen. Von dem soeben wiedererstandenen polnischen Staat wurde die Rote Armee 1920 empfindlich geschlagen. Warum wurde dann, ungeachtet all dieser Anzeichen von Schwäche, die Gefahr einer bolschewistischen Invasion von Hitler immer wieder an die Wand gemalt? Eine einleuchtende Erklärung dafür lieferte Ernst Nolte in einer seiner früheren Arbeiten. Für ihn handelte Hitler „im Bewußtsein einer einzigartigen weltgeschichtlichen Möglichkeit..., der Möglichkeit, die Russische Revolution unter bürgerlicher und europäischer Sympathie auszumerzen und damit für ... Deutschland eine völlig neue und seine Zukunft unbedingt sichernde raumpolitische Lage zu schaffen“.

Die nationalsozialistische Politik verkörperte also geradezu die reine, in der Regel unprovozierte Aggressivität, und jeder Versuch, sie als reaktiv oder defensiv darzustellen, verzerrt die wahren Sachverhalte. So kann die Befreiung vom „Ballast der Geschichte“ bzw. vom Ballast der Erforschung der Vergangenheit dazu führen, daß man, wie im Falle von Frau Margolina, bestimmte nationalsozialistische Propaganda-Thesen für bare Münze nimmt. Dr. Leonid Luks, Osteuropa-

Redaktion der Deutschen Welle,

Köln