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Leben in den Ruinen von Vukovar

In den Trümmern der Hauptstadt Ostslawoniens hausen Flüchtlinge. Die „Republik der Serbischen Krajina“ wird von irregulären Verbänden beherrscht. Die UN-Truppen sind machtlos.  ■ Aus Vukovar Thomas Schmid

„Nach Vukovar wollen Sie?“ – „Ja.“ – „Und was wollen Sie in Vukovar?“ – „Sehen, wie es aussieht.“ – „Es gibt in Vukovar nichts zu sehen, Vukovar ist zerstört.“ – „Das weiß ich.“ – „Dann wissen Sie sicher auch, wer Vukovar zerstört hat?“ – „Ja.“ – „Dann lesen Sie das hier genau durch! Danach sind Sie klüger.“ Der Mann ist entschieden von der unfreundlichen Sorte. Diplomatischer Umgang wird hier in der „Botschaft“ der „Republik der Serbischen Krajina“, einem Büro im Zentrum Belgrads, offenbar klein geschrieben. Aus dem Papier – ein Brief des „Präsidenten“ der besagten Republik an UNO-Generalsekretär Butros Ghali – erfährt der Reporter, daß „der Anspruch, Vukovar gehöre zu Kroatien, gegenstandslos ist, da diese Stadt in der Republik der Serbischen Krajina liegt und schon immer eine serbische Mehrheit hatte“. Eine dreiste Lüge, doch es kommt noch dicker. „Die Kroaten“, so heißt es weiter, hätten sich zum Ziel gesetzt, „Vukovar zu zerstören und die Schuld auf die Serben abzuschieben“. Eine Diskussion scheint hier wenig Sinn zu machen. Doch schließlich rückt der Mann das Visum heraus, das zum Besuch seiner „Republik“ berechtigt, der serbisch besetzten Gebiete Kroatiens, die seit dem Februar des vergangenen Jahres unter dem Schutz von UN-Truppen stehen.

Mit Hilfe der jugoslawischen Armee haben serbische Freischärler in der zweiten Jahreshälfte 1991 etwa ein Drittel des kroatischen Staatsgebietes erobert und „ethnisch gesäubert“, darunter auch Ostslawonien mit dem Hauptort Vukovar. In der einst blühenden Handelsstadt an der Donau, die bis zum Zweiten Weltkrieg auch eine bedeutende jüdische und deutsche Minderheit hatte, lebten bei Ausbruch des jüngsten Krieges 85.000 Menschen, davon 44 Prozent Kroaten, 37 Prozent Serben, der Rest Ungarn, Slowaken und Ruthenen. Heute, so schätzt Dragana Klajic, die in der Regionalverwaltung der Krajina-Regierung in Ostslawonien die Presse betreut, seien es noch etwa 20.000, davon 16.000 serbische Flüchtlinge aus Westslawonien. Hinter ihrem Rücken hängt ein Plakat mit den Ruinen von Vukovar – und der Aufschrift: „Der Genozid am kulturellen Erbe des serbischen Volkes“. Klajics Büro liegt nicht in Vukovar, sondern in Borovo Naselje, einem vor dem Krieg ausschließlich kroatischen Vorort, und die 20.000 Menschen, von denen die Beamtin spricht, leben auch nicht in der Stadt Vukovar, sondern zum allergrößten Teil in den umliegenden Dörfern des gleichnamigen Distrikts. Denn Vukovar ist zerstört.

87 Tage lang wurde die Stadt vom andern Ufer der Donau, aus Serbien, mit schwerer Artillerie beschossen, von der jugoslawischen Luftwaffe bombardiert, von Tschetniks und Soldaten belagert und von der kroatischen Armee und der rechtsextremen HOS-Miliz hartnäckig verteidigt, bis sie am 19. November fiel. Heute ist sie eine gespenstische Ruinenlandschaft. In der Innenstadt ist nicht ein einziges Haus erhalten geblieben. Überall sieht man nur noch mit Einschüssen übersäte Grundmauern und Gerippe von Dächern. In den Straßen haben Tausende von Granaten tiefe Trichter hinterlassen. Nur die Aufschrift „Dunav“ (Donau) zeugt an einem zerfetzten Gebäude noch davon, daß hier einmal das Luxushotel von Vukovar gestanden hat. Zerschossene Barockfassaden künden vom einstigen Reichtum der Handelsleute der Stadt. Und das Schloß des Grafen von Eltz, von Strauß in einer Operette besungen, nach der Enteignung 1945 ein kunsthistorisches Museum, ist ein einziger Jammer. Der Lustgarten, direkt an der Donau gelegen, ist zu einem Paradies für streunende Hunde verkommen.

Doch ein bißchen Leben ist in die Stadt wieder eingekehrt. Hin und wieder trifft man auf ein paar Menschen, die sich in den Ruinen eine Bleibe eingerichtet haben. Es sind meistens Bauern aus Westslawonien, die vor den kroatischen Streitkräften geflohen sind. Einige haben ihre Hühner mitgebracht, und neben den Überresten des Rathauses suchen zwei Ziegen nach Freßbarem. Auch die Strom- und Wasserversorgung ist zum Teil wiederhergestellt. Ja, mitten in dieser Trümmerlandschaft hat sogar ein Café aufgemacht. Doch all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Stadt, wie sie einmal war, für immer zerstört ist. Vukovar kann nicht wiederaufgebaut, nur noch neu gebaut werden.

Vorbei an einer jüngst errichteten Statue des historischen Tschetnik-Führers Draža Mihajlović, den Tito 1946 hinrichten ließ, vorbei an zerstörten und an heil gebliebenen Dörfern, vorbei an verwilderten Feldern, vor deren Betreten Schilder mit der Aufschrift „Mine“ warnen, vorbei an zahlreichen Stellungen der Krajina-Armee erreicht man hinter dem Dörfchen Markušica, 30 Kilometer westlich von Vukovar, die Front. Seit einem halben Jahr nun schon sind hier in der Einöde, zwei Kilometer von den kroatischen Stellungen entfernt, knapp zwanzig Russen stationiert, eine Einheit der UNPROFOR, der Schutztruppe der Vereinten Nationen. Sie stehen vor ihren weißen Wohnbaracken und langweilen sich. Einer versucht mit einer Art Schmetterlingsnetz Ratten zu fangen. Nein, militärische Auseinandersetzungen habe es bislang nicht gegeben, sagt der Kommandant. Aber es sei nicht auszuschließen, daß hier der Krieg wieder ausbricht. Zwar wurde das Mandat der UNO-Truppen noch einmal bis Ende Juni verlängert. Doch diese sind ihren Aufgaben bisher nicht nachgekommen: Die irregulären Verbände (und dazu gehört auch die Armee der selbsternannten Republik) wurden nicht entwaffnet und die Rückführung der geflüchteten Menschen nicht in Angriff genommen. Und so steigt die Gefahr, daß die Kroaten sich ihre Gebiete mit Gewalt zurückholen. Wenn es hier wieder losgeht, das sieht der russische Kommandant ganz realistisch, stünden die Blauhelme mit ihren leichten Waffen schnell im Kreuzfeuer der verfeindeten Truppen.

Im nahen Markušica weiß man, was Krieg bedeutet. 5.000 Granaten seien während der Auseinandersetzungen 1991 hier eingeschlagen, sagt der Bauer Goran Bogavac*. Die Leute in der Dorfkneipe – alles Männer, die unter überlebensgroßen Pin-up-Girls ihr Bier trinken – pflichten ihm bei. Ja, aus Mrzovic, Laslovo und Jarmina, aus drei vor allem kroatisch besiedelten Dörfern, habe man sie beschossen. 40 Tote habe es unter den 1.500 Einwohnern gegeben. Doch die zehn Prozent Kroaten von Markušica seien trotz allem im Dorf geblieben. Schwierigkeiten hätten die keine. Man habe ja immer friedlich zusammengelebt.

Fünf Hektar Land besitzt Bogavac. Nein, es ging ihm wirklich nicht schlecht. Er hat sich sogar das Geld für ein Häuschen auf Pag, einer der adriatischen Küste vorgelagerten Insel, zusammengespart. Doch das kann er nun vergessen, es liegt im kroatischen Ausland.

Wie überall in den Dörfern Ostslawoniens haben sich auch in Markušica serbische Flüchtlinge aus Westslawonien niedergelassen. Einer von ihnen ist der Geographie- und Geschichtslehrer Ljubiša Njegovan aus Podravska Slatina. Nun unterrichtet er hier in Markušica. Untergekommen ist er im Haus einer älteren Serbin, die aus Angst vor einem neuen Krieg nach Ruma, einer Stadt in der zu Serbien gehörenden Srem, weiter nach Osten geflüchtet ist. Er sei aus seiner Stadt geflohen, berichtet Njegovan, nachdem er telefonische Mordandrohungen erhalten habe, zwei seiner serbischen Lehrerkollegen geschlagen und seine beide Kinder bedroht worden seien. Und schließlich hätten Pavelićs Leute schon seinen Vater umgebracht.

Ante Pavelić war Führer der faschistischen kroatischen Ustascha- Republik (1941–1945). Daß die kroatischen Soldaten alle Ustaschen sind, die einen zweiten Genozid an den Serben vorbereiten, davon ist auch der 75jährige Stojan Raskovic* überzeugt. Der alte Mann mit der traditionellen Tschetnik-Mütze, drei Dolche um den Oberschenkel geschnallt, hat sich wieder die Uniform übergezogen. Seine Frau und vier Kinder hätten die „Ustaschen“ vor anderthalb Jahren abgeschlachtet, berichtet er, danach habe er sich bei der Truppe gemeldet.

Seine Truppe, ein Haufen von zwei Dutzend Soldaten der Krajina-Armee, steht vor der zerstörten ungarisch-katholischen Kirche von Korog, einem kleinen Dorf, das den Krieg offenbar ziemlich heil überstanden hat. Es sind Gesellen, denen man nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein auf der Straße begegnen möchte: Eierhandgranaten, ein oder zwei Schußwaffen und ein Bajonett am Gürtel, dazu eine äußerst unangenehme aggressive Haltung. Der Tonfall ist gereizt. Man ist an der Front, und es herrscht Alarmstufe eins. Es ist der 9. April. Morgen ist der Jahrestag der Ausrufung des „Unabhängigen Staates Kroatien“ von Ante Pavelić. Die Truppe befürchtet einen Angriff der Kroaten. Überall werden Schützengräben ausgehoben.

In Erdut, einem Dörfchen an der Donau, wo die UNO-Truppen des Ostsektors – 600 Belgier und 800 Russen – ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben, hält man einen kroatischen Angriff für völlig unwahrscheinlich. Alarmstufe eins, Schützengräben – all dies diene der inneren Mobilisierung. Nein, eine akute Gefahr eines kroatischen Angriffs gebe es nicht, und auch die Krajina-Serben hätten kein Interesse, einen neuen Krieg zu entfesseln. „Die wollen vor allem ihr Image aufbessern“, meint Jean-Pierre Ollivier von der UNCIVPOL, der zivilen Einheit der UNPROFOR, die für die Überwachung der Krajina-Polizei zuständig ist.

Der französische Gendarm kennt seine Pappenheimer. Er ist seit August hier im Dienst und hat täglich mit den Behörden der „Krajina-Republik“ zu tun. „Die wollen ein richtiger Staat sein“, sagt er, „und dazu gehört auch eine ganz normale Polizei.“ So bemüht sich denn die „Republik“ tatsächlich um eine Professionalisierung ihrer Polizeitruppe. „Da wurde nun schon eine ganze Reihe von kriminellen Elementen hinausgesäubert“, stellt Ollivier fest, „doch viele, die in kein Polizeikorps der Welt gehören, werden von ihren Vorgesetzten eben protegiert.“ Und dann gebe es auch immer wieder Druck, die Säuberungen zu stoppen. „Das geht hin bis zu Attentaten mit Toten.“ Wer die Täter sind, darüber will der Franzose nicht spekulieren. Aber es gebe eben noch an die 3.000 „Tiger“ im Land – das sind die Freischärler des gefürchteten Zeljko Raznatović alias „Arkan“ –, „und die hat keiner unter Kontrolle“.

Eine Einheit der berüchtigten Truppe lagert unweit des Hauptquartiers der Blauhelme. Junge Burschen mit wildem Aussehen, langhaarig und vollbärtig, martialisch gekleidet – sie erinnern an den Prototyp des lateinamerikanischen Guerillero, an Che Guevara. „Arkans“ Truppen waren es, die zusammen mit der jugoslawischen Armee im November 1991 ins zerstörte Vukovar einmarschierten, Überlebende verschleppten und sogar Verletzte aus dem Krankenhaus holten. Im Januar dieses Jahres entdeckten UN- Soldaten in der Umgebung von Vukovar Massengräber mit über 300 Leichen. „Bei der Zuweisung von Schuld für die Massengräber“, heißt es im anfangs erwähnten Brief des Präsidenten der „Republik der Serbischen Krajina“, Goran Hadžić, an UN-Generalsekretär Butros Ghali, „muß man bedenken, daß die Jugoslawische Armee keine serbische Armee war und ihre Verwicklung in die Ermordung von Zivilisten also nicht Serben zugeschrieben werden kann.“

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