: Berlins Wirtschaft fällt ab
■ IHK meldet geringes Wachstum / Dienstleistungen legen nach wie vor zu
Berlin. Berlins Konjunktur kränkelt: Erstmals seit dem Fall der Mauer lag das Wirtschaftswachstum der Stadt im vergangenen Jahr mit 1,5 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt, konstatierte gestern die Industrie- und Handelskammer (IHK) bei der Vorlage ihres Jahresberichts 92/93. Zwar wurde IHK-Hauptgeschäftsführer Thomas Hertz nicht müde, die beachtlichen Leistungen der Berliner Unternehmen hervorzuheben – doch die anhaltende weltweite Rezession wird nach Überzeugung der IHK auch dieses Jahr weiterhin die Konjunkturdaten bestimmen. Dabei zeigen die IHK- Zahlen den vielgescholtenen Osten in einem weitaus günstigeren Licht als bisher angenommen. Immerhin stieg die Wachstumsrate im Ostteil der Stadt um acht, im Westteil dagegen nur um ein knappes Prozent. Doch die Situation, so Hertz, sei insgesamt keineswegs „rosig“. Mit Prognosen hielt er sich daher gestern ganz bewußt zurück: Im Westteil der Stadt sei eine „Erholung auf niedrigem Niveau“ zu erwarten, während für Ostberlin trotz der „notwendigen Anpassungsprozesse“ nach jüngsten Umfragen die Auftragseingänge und die Investitionspläne für dieses Jahr nach oben zeigten. Auch bei den Firmenneugründungen steht der Osten nicht schlecht da: Auf zwei Anmeldungen kommt eine Abmeldung, wogegen der Westen bei 1,3 Gründungen jeweils einen Abgang meldet.
Insgesamt bietet der IHK-Jahresbericht ein differenziertes Bild der Berliner Ökonomie. Nach wie vor ist die verarbeitende Industrie in einzelnen Branchen im Abwärtstrend. Der Dienstleistungssektor kann sich hingegen nicht beklagen: Um rund fünf Prozent auf nunmehr 26.000 Beschäftigte stieg hier die Zahl der Arbeitnehmer im Westteil – auch im Osten geht die IHK von einem spürbaren Wachstum aus. Insgesamt tragen die Dienstleistungen nunmehr mit über fünf Prozent zum Berliner Sozialprodukt bei.
Weiterhin düster sieht es auf dem Arbeitsmarkt aus. Vor allem die ausländischen Arbeitnehmer waren im vergangenen Jahr von der steigenden Arbeitslosigkeit betroffen: 37,5 mehr als noch 1991. Prügelknabe war gestern für die IHK neben dem Senat, der wegen seiner schleppenden Verwaltungsreform und dem ungenügenden Wohnungsbau kritisiert wurde, vor allem die Bonner Politik. Mit Sorge werden die derzeitigen Beratungen zur Regionalförderung im Bundestag beobachtet. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Standortsicherung sollen für private Investitionen in den neuen Ländern und Ostberlin – außer im Baubereich – noch bis 1996 Sonderschreibungen gelten – im Westteil der Stadt wird damit 1994 Schluß sein. Bliebe es dabei, so Hertz, würden „neue Gräben“ zwischen West und Ost aufgerissen. Severin Weiland
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