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Die Gedenktafel am falschen Haus

■ Hausbesitzer verhindert Ehrung für ermordeten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde

Neukölln. Morgen vormittag wird eine Gedenktafel an einem Haus in der Straße Alt-Rudow 43 enthüllt. „Hier stand das Geburtshaus von Heinrich Stahl“ steht darauf zu lesen. Stahl war in den Jahren 1933 bis 1940 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und wurde zusammen mit seiner Frau im KZ Theresienstadt ermordet. Anwesend sind auch dreiundzwanzig über die ganze Welt verstreute Nachkommen, eigens vom Senat für die Feier eingeladen.

Einen Festakt für Heinrich Stahl gibt es im Jüdischen Gemeindehaus. Auch ein Buch über Stahl, der von der Gestapo abgesetzt wurde, weil er sich gegen die Zwangsintegrierung der Gemeinde in die von den Nazis verordnete „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ wehrte, ist erschienen.

Der Haken ist bloß: die Gedenktafel wird morgen am falschen Haus enthüllt. Heinrich Stahl wurde vor 125 Jahren nicht, wie die Tafel vermeldet, in Alt-Rudow 43 geboren, sondern ein Haus weiter in Alt-Rudow Nr. 41. An diesem Ort steht heute das neue, mit Eternitplatten verkleidete Wohn- und Geschäftshaus der Bäckerei Bannert. Und an jenem Gebäude wollte der Bezirk Neukölln die Gedenktafel auch anbringen. Aber der Bezirk hatte die Rechnung ohne den Besitzer gemacht. Zwar habe er nichts gegen Heinrich Stahl, ließ der Bäcker den Bürgermeister wissen, aber daß dieser Jude war, deportiert und auch noch umgekommen, möchte er lieber nicht an seinem Hause lesen. Dies könnte die neuen Nazis provozieren, sie könnten eventuell die Fensterscheiben einwerfen. Ein winzig kleines Hakenkreuz habe er schon an seinem Haus gefunden. Zudem würde eine Tafel die Eternitplatten beschädigen.

Auch den Kompromißvorschlag des Bürgermeisters, die Marmorplatte nicht am Haus, sondern an einem Sockel im Garten anzubringen, lehnte er nach langer Bedenkzeit ab. Zu diesem Zeitpunkt aber war die Gedenktafel mit der Aufschrift „Hier stand das Geburtshaus ...“ für 40.000 Mark bereits in Auftrag gegeben. Auch die Gäste waren schon eingeladen und Bürgermeister Mey mit den Nerven ziemlich fertig. Nach Rücksprache mit der Jüdischen Gemeinde, die der Ansicht war, daß nicht der Geburtsort entscheidend ist, sondern die Herkunft – also Alt-Rudow –, entschloß man sich deshalb, die Tafel am Nachbarhaus anzubringen.

Der Besitzer hatte nichts dagegen, und auch die Nachkommen der Familie Stahl zeigten sich souverän. Und so könnte sich trotz der historischen Ungenauigkeit alles zum Guten wenden, wenn es nicht noch ein Problem zu lösen gäbe. Was passiert mit dem zur Geburtsstätte erhobenen Haus Nr. 43, wenn es im Herbst dieses Jahres abgerissen wird? Anita Kugler

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