: Musealer Zeitverlust
■ "Zeitreise" - Eine Ausstellung im Museum für Gestaltung Zürich stiehlt Zeit und versucht, diesen Diebstahl aufzuklären
Das klassische Bild für eine Zeit-Maschine ist die Raum-Spirale: zwei parallele Fäden, meist schwarz und weiß, als endloser Kreis in die räumliche und damit auch zeitliche Dimension unseres Daseins gewirkt. Sichtbar bleibt dabei immer ein Endpunkt, die Mitte, das Ziel. Dort angekommen, ergibt sich wieder das gleiche Bild: die kreisende Bewegung, die ewige Spirale, der Punkt, das Ziel. Für das, was der Mensch eigentlich nicht begreifen und verstehen kann, schafft er sich immer wieder Sinnbilder und Denkhilfen. Es sind Versuche, dem sinnlosen Treiben der gelebten Geschichte doch noch einen bis zuletzt vielleicht verborgenen Sinn abringen zu können. Am Ende steht der Tod – die abgelaufene Lebens-Uhr.
Die Ausstellung „Zeitreise“ im Museum für Gestaltung in Zürich verfährt ähnlich. Zunächst betritt man eine sich nach hinten verjüngende, acht Meter lange Holzröhre, innen bemalt mit dieser schwarz-weißen Spirale. An ihrem Ende – was könnte dort in unseren Zeiten anderes stehen – ein sinnlos vor sich hinflackernder Fernsehapparat. Hinter dieser Zeit-Schleuse beginnt der erste Teil der Ausstellung.
Doch schon mit diesem synthetischen Arrangement hat einen das, was mit Zeit ebenfalls assoziiert wird – nämlich die Langeweile –, beim Schopfe gepackt: Man steht in der komplett nachgebauten und eingerichteten Wartehalle eines Bahnhofs. Die schreckliche grüne Farbe und die Bänke sind ebenso authentisch wie die aufgestellten Automaten und die Fahrpläne. Belanglose Bilder an den Wänden beschäftigen sich in wahlloser Weise mit dem Phänomen des Vergehens von Zeit. Ein Möbiusband zieht kurz die Aufmerksamkeit auf sich, das aufgestellte Aquarium surrt leise vor sich hin, und die Fische denken gar nicht daran, an unserer Suche nach Sinn und Zeit teilzuhaben. Irgendwo stehen, aus Wachs geformt, Lenin, Trotzki, Gorbatschow und andere – unbekannte – Genossen herum und warten. Worauf, erfährt man nicht. Den stummen Herren gleich wird auch der Besucher zum Warten gezwungen: Die am Eingang gezogene Nummer wird irgendwann aufgerufen, erst dann betritt man die Ausstellung, die in diesem Fall eher einer Versuchsanordnung oder einem Labor gleicht.
Die große Halle steht voll diverser Kabinen, Kabinette, Gerätschaften, Monitore und Kunstwerke. Schwarze Wände, schwarze Kabinen, schwarze Sockel: eine morbide Stimmung, in der nichts ablenkt, die einen vielmehr auf die Inszenierungen konzentriert. Jede von ihnen signalisiert beständig, ein wenig höhnisch: Deine Zeit vergeht! Irgendwo im Dämmerlicht zuckt eine Apparatur vor sich hin, grelle Blitze werden projiziert, es dampft, und an der Wand steht eine endlose Reihe von Monitoren mit Ausschnitten aus verschiedenen Zeitreisefilmen. Wahrnehmungsvorgänge, zerlegt in Zeiteinheiten – Zeit, die vergeht, vergeht.
Das Konzept der Ausstellung ist relativ einfach, aber auch zwingend: Die Objekte und Installationen zeigen nichts, sondern führen etwas vor. Erst wenn man sich auf den Zeit-Begriff und das wissenschaftliche Vokabular des jeweiligen Einzel-Experimentes einläßt, erschließt sich der Sinn jeder kleinen Vorführung. Der Besucher selbst ist dabei immer gleichzeitig Laborant und Versuchsperson. Dafür benötigt er Zeit. Jede dieser Versuchsanordnungen belegt, wie der Mensch seit ewigen Zeiten des Phänomens Zeit Herr zu werden versucht, indem er versucht, ihr Verrinnen aufzuhalten oder sie in meßbare Einheiten zu zerlegen – um sie anschließend stolz als Maß- oder Zahlenwerk zu präsentieren.
Den sogenannten „Lorenz- Attraktor“ beispielsweise setzt man selbst in Bewegung: zwei miteinander verbundene Pendel, die für den nichtlinearen, fraktalen Prozeß des Phänomens Zeit stehen und sich mit ihren unregelmäßigen Turbulenzen sozusagen gegenseitig überraschen und verwirren. Diese unberechenbaren Bewegungen sind ein zentrales Bild der gegenwärtigen Chaos-Forschung, das als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen diente.
Wohin man sich wendet: überall wird man in diese Prozesse und Laborversuche einbezogen. Ob in der Lesestube, der Nebeldiffusionskammer, in der Film-Blitz-Zelle oder vor der stilisierten Ausgrabungsvitrine, die vorführt, wie uns nachfolgende Generationen durch unsere Methoden der Zeitmessung zu verstehen versuchen werden. Auch wenn man nicht alles begreift, eines gelingt der Ausstellung: sie macht uns einerseits wieder zum Kind, indem sie unseren Spielsinn und unsere Entdeckerfreude stimuliert – andererseits werden wir auf diese spielerische Weise zum Nachdenken gezwungen.
Letztlich hat der Ort etwas Unheimliches, denn es ist zwecklos, den letzten Sinn dessen, was wir Zeit nennen, ergründen zu wollen. Sie vergeht, auch ohne uns. Martin Kieren
Die Ausstellung „Zeitreise“ ist noch bis 12. Mai täglich (außer Montag) von 9 bis 18 Uhr im Museum für Gestaltung Zürich, Ausstellungsstraße 60, zu sehen. Der Katalog kostet 48 DM.
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