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Wenn Nazis anfangen zu plaudern...

■ Eingeführt durch Michael Kühnen, konnte der Journalist Michael Schmidt in der rechtsradikalen Szene deren Redseligkeit und Gefallsucht ausnutzen und bahnbrechende Informationen zusammentragen

Sie waren an jenem 21. April vor drei Jahren in den Löwenkeller zu München gekommen, um ihre Vergangenheit neu zu schreiben. Und das wurde ihnen geboten. David Irving, „britischer Historiker“, befreite eine enthusiasmierte Masse: „Daß es nie Gaskammern in Auschwitz gegeben hat! Jaaah!!! brüllt das Volk, selig vor Erlösung. Irving muß unterbrechen, denn der Jubel ist anhaltend.“ So beschreibt Michael Schmidt in „Heute gehört uns die Straße“ die Feierstunde. Das Treffen der Hautevolee der Antisemiten, Alt-, Neo- und Skinheadnazis war der Höhepunkt einer revanchistischen Kampagne in Europa, angeführt von Ernst Zündel, neonazistischer Buchautor, der 1958 vor den Strafverfolgungsbehörden nach Kanada floh.

Gut drei Jahre lang recherchierte der Journalist Michael Schmidt in der Neonaziszene, eingeführt wurde er von Michael Kühnen. Der selbsternannte Führer, durchaus mit Charisma, versprach sich von der Langzeitbeobachtung eine Hommage an seine Person, wohl schon den nahen Tod ahnend. Schmidt packte die Nazis von heute bei ihrer Gefallsucht – und wenn sie erst einmal Vertrauen gefaßt haben, bricht es schier wasserfallartig aus ihnen heraus. Zumal sie bei Schmidt überzeugt sind, einen sympathisierenden Journalisten vor sich zu haben. Mit der permanenten Angst, entdeckt zu werden, lernt Schmidt umzugehen, selbst dann noch, als die Situation nach Kühnens Tod sich kurzzeitig dramatisch gestaltet. Aber mit seiner Neugier kriegt Michael Schmidt sie alle.

Er fördert bislang unentdeckte Interna zutage. Auf einer Autofahrt erfährt er zufällig von Michael Kühnen, daß „jeder verantwortungsvolle Kamerad ein Versteck hat, in dem (...) auch Waffen sind.“ Kühnen plaudert ungeniert über finanzielle Probleme, die von „alten Kameraden“ der SS gelöst werden, die sich seinerzeit mit dem Geld ihrer NS-Organisationen versorgten, bevor sie sich nach Übersee absetzten. Nebenbei erhält Schmidt auch Hinweise darüber, daß die legendäre Kriegsverbrecherorganisation ODESSA noch existiert, Nazis sich im Waffen- und Drogenhandel tummeln.

Redselig auch das Jungvolk. Ren Koswig und Frank Hübner, zwei Exponenten der neuen ostdeutschen Rechten, bauen im Auftrag der NSDAP-AO (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei/Auslandsorganisation) die Deutsche Alternative (DA) auf, die kürzlich erst verboten wurde. Ungehindert darf Schmidt auf deren Parteiversammlungen filmen, er bekommt die geheimen Pläne über die Taktik der Untergrundarbeit im Osten zu sehen. Der Autor deckt die Zusammenhänge zwischen legaler und klandestiner Arbeit auf. Denn auch in der Skinheadszene genießen Hübner und seine DA-Freunde hohes politisches Ansehen. Anfängliche Unsicherheiten bei der Dressur der unorganisierten Kahlköpfe weichen schnell einem profihaften Führungsstil, ganz so, wie es im Aufbauplan Ost empfohlen wird.

Differenziert und ohne Übertreibung porträtiert Schmidt die Neonazi-Macher. Schmidt nimmt am Geschehen teil, muß Distanz überwinden, um glaubwürdig zu bleiben. Persönliche Beziehungen bleiben nicht aus bei einer derart langen Recherche. In einer solch intimen Situation gelingt Schmidt ein journalistisches Meisterstück. Im Juli 1990 trifft sich im dänischen Kollund die Leitung der NSDAP-AO. Schmidt darf auf Einladung seines Gönners Kühnen daran teilnehmen. Mit von der Partie ist auch Thies Christophersen, 73, der Autor der „Auschwitz- Lüge“. Noch heute halten Jungnazis das Buch von 1970 wie eine Bibel hoch. Christophersen, der im dänischen Exil lebt, ist ein tatteriger Mann. Selbst ihm genügt ein Hinweis von Michael Kühnen, daß Schmidt sich mit einer „Langzeitdokumentation“ beschäftigt, und prompt kommt der Greis ins Erzählen. Christophersen, der in seiner „Auschwitz-Lüge“ behauptet, Massenvernichtungen durch Gas habe es nie gegeben, gibt sich Blößen. Natürlich weiß er über die Gaskammern Bescheid, und erklärt, er lüge weiterhin, um seine SS-Kameraden und die neue deutsche Nazibewegung „zu verteidigen“. Wo kann wortwörtlich nachgelesen werden, wie sich ein ehemaliger SS-Sonderführer und heutiger Drahtzieher im internationalen Nazigeflecht selbst entlarvt?

Michaels Schmidts Report setzt sich wie ein Puzzle zusammen: Wie nationalistisches Fußvolk auf den Straßen marschiert, wo ihre revisionistischen Lenker in etablierten Rechtsaußen-Parteien sitzen, wer sie mit Waffen und Geld beliefert. Dabei halten westliche Geheimdienste Fäden der besonderen Art in der Hand. Im kalten Krieg wurden einstige SS-Leute zu wertvollen Spezialisten. Ein zweites Mal erledigten sie ihre Aufgabe mit Beharrlichkeit, Präzision und Brutalität. Die alten braunen Männer haben ihren Nachwuchs ausgebildet. Ein vermutlich riesiges, internationales Netzwerk ist gesponnen. Er habe nur die Spitze eines Eisberges gesehen, sagt Schmidt. „Wenn wir ihnen eine Chance geben – sie werden sie nutzen. Sofort und gnadenlos.“ Annette Rogalla

Michael Schmidt: „Heute gehört uns die Straße“, Econ-Verlag, 398 Seiten, 39,80 DM

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