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"Diese Sache ist gefährlich"

■ Werbefreie Musikprogramme läuten in den USA das Ende der Radiodays ein / Das Kalbelsystem DMX hat in den Hörmuscheln der amerikanischen Mittelklasse einen festen Platz erobert

Gleich kommen die Nachbarn zum Essen, und die Kassette mit der Led-Zeppelin-Auswahl ist plötzlich nicht mehr das Richtige. Wo ist diese Glenn-Miller-CD, wenn man sie mal braucht? Die Rettung verspricht der „Bigband“- Kanal. Da kann man sich auf dem Kanal „Schöne Instrumentals“ ein bißchen mit Fahrstuhlmusik einlullen lassen. Oder mit einem Hauch Sinatra auf „Große Sänger“. Oder wie wär's mit „Rap“, „Worldbeat“, „Dancefloor“, „Folkrock“, „Neue Kirchenmusik“? Das alles gibt es bei DMX, bekannt auch als Digital Music Express, einem Kabelradiosystem aus San Francisco. Musik für 30 verschiedene Stimmungen kommt direkt und digital von der lokalen Kabel-TV-Firma in die Wohnung.

Digital Music Express ist auf den meisten Kabelsystemen der kalifornischen Bay Area für eine Gebühr von etwa zehn Dollar im Monat erhältlich. Das Programmangebot ist zwar nicht gerade revolutionär, aber die Einrichtung selbst dürfte drastisch die Art und Weise verändern, in der Popmusik der Öffentlichkeit angeboten wird. Den Kern des Systems bildet eine Fernbedienung, die neben den üblichen Knöpfen auch eine Anzeige enthält, auf der man erfährt, welches Lied gespielt wird und wer der Interpret ist. Dazu der Autor des Stückes und der Titel des Albums – ein Discjockey in der Dose.

„Diese Sache ist gefährlich“, sagt Marshall Philips, Nachrichtendirektor von KFOG Radio, und wiegt die DMX-Fernbedienung in der Hand. Dieses Musikübertragungssystem könnte eine Bedrohung fürs Radio werden. Wer schaltet schließlich noch sein Radio ein, wenn er DMX hat? DMX- Gründer und Vorsitzender Jerry Rubinstein, ehemaliger Angestellter einer Plattenfirma, leugnet, daß dies seine Rache am Radio sei. „Die Tage des Radiohörens daheim sind sowieso längst vorbei“, sagte er. „Der ganze Wert eines Radiosenders liegt in den Fahrzeiten im Auto.“

Rubinstein leugnet jedoch nicht, daß sein werbungsfreies, discjockeyloses 30-Kanal-System einen direkten Angriff auf die Hegemonie der Produkte der Firma Muzak (Supermarktmusik) und der anderen kommerziellen Musikträger darstellt, die für Läden Hintergrundgedudel liefern. „Muzak bringt ein Produkt von schlechter Qualität und hatte ein Monopol“, sagt er. Steve Tracy, Muzak- Generalmanager für South San Francisco, behauptet, er betrachte DMX nicht als direkte Konkurrenz. „Wir bringen Geschäftsmusik. Sie beschäftigen sich mit Unterhaltung“, meint er.

Musik ist heutzutage zu einem Lifestyle-Zubehör für das Heim geworden, wie Sofakissen, gerahmte Drucke oder Kaffeetische mit Glasplatten. Die Leute unterhalten sich mit Musik, schmücken sich mit Musik und entspannen sich mit Musik. In diese soziale Nische tritt DMX und durchläuft die Kabelsysteme der amerikanischen Mittelklassehaushalte, die sich mehr Fernsehkanäle leisten können, als sie wirklich brauchen.

Rubinstein erwartet, daß im nächsten Jahr das Musiksystem in etwa 60 Prozent der Kabelhaushalte des Landes verfügbar sein wird. Er plant weiterhin, im nächsten Jahr die Zahl der Kanäle auf 60 zu verdoppeln und ganze Bereiche dieses Spektrums solchen Spezialitäten wie der Country-Musik oder der Zydeco-Cajun-Musik zu widmen. Dann wird DMX Designermusik liefern: jeder Kanal eine eigene Boutique sorgfältig und konservativ ausgewählter Klänge. Der „Blues“-Kanal zum Beispiel schürft niemals sehr tief in der Musikgeschichte, vermeidet alles, was auch nur entfernt dem Country-Blues ähneln könnte, und hält sich eng an den klassischen Chicago-Blues-Sound aus dem Jazz-Records-Katalog – was für einen Blues-Fan denkbar oberflächlich tönt. Der „Symphonische Kanal“ – einer der drei Klassikkanäle neben „Oper“ und „Kammermusik“ – hält sich an große Komponisten, jede Menge Mozart und so weiter. Der klassische Jazz erforscht nicht die lohnenden Nischen und Ecken des Bebop und der Gefilde dahinter, sondern spielt haufenweise bekannte Namen wie Miles Davis und Cannonball Adderley. Jazz ist laut Rubinstein die große Überraschung der Hörerumfragen. Die drei Jazzkanäle – leichter Jazz, klassischer Jazz und Bigband/Swing — werden häufig eingeschaltet; nicht nur, wie er vermutet, weil die Nur- Instrumental-Musik einen guten Hintergrund liefert, sondern weil die Jazz-Fans vom Medium Radio schlecht bedient worden sind. Folkrock erweist sich als interessanter Kanal, weil die Programm- Macher, um ihren Bereich abzudecken, mehr bieten mußten als in anderen Kategorien. Wo sonst spielt man heutzutage Phil Ochs?

Rubinstein zog schon früh den Radioberater Kent Burkhart zu seinen Planungen heran, und Burkhart überwacht die tägliche Programmgestaltung aller Stationen, wobei er für bestimmte Bereiche wiederum Fachleute engagiert. Maryse Najar, Pressesprecherin für DMX, schätzt, daß auf den 30 Kanälen täglich mehr als 12.000 Titel laufen. Die Auswahl mag nicht besonders wagemutig sein, aber DMX scheint einigermaßen tief in seine Bestände greifen zu können, ohne sich allzu oft zu wiederholen. Außerhalb der Kanäle, die sich auf Hits spezialisieren, scheint DMX eine Menge verschiedener Titel durch seine Programme rotieren zu lassen. Das Liefersystem ist kompliziert, aber im wesentlichen werden die CDs in den Heimatstudios von DMX in Atlanta in Computersprache übersetzt, über Satellit an Kabelsysteme übertragen und in ein Heimterminal gefüttert, das wie ein ganz normaler FM-Tuner ohne Wählscheibe aussieht. Dort wird der Computercode in ein digitales Musiksignal zurückübertragen. Der Klang ist so klar und deutlich wie auf CDs.

Rubinstein erzählt, als er Kabelanbietern zum ersten Mal seine Idee vorgetragen habe, hätten sie über den Gedanken, ein Audioprodukt zu verkaufen, gelacht. Aber man braucht nur eine Minute mit der DMX-Fernbedienung, um die Besonderheiten des Systems schätzen zu lernen. Warum soll man dem Musikradio lauschen, wenn es DMX gibt? Angesichts der jämmerlichen Radioprogramme besteht dafür keinerlei Grund. DMX ist zwar kein Ersatz für eine gute CD- oder Plattensammlung – aber wenn man die Konkurrenz in der Heimunterhaltung als Pokerspiel begreift, dann hat der Kabelmusiksender soeben den Einsatz erhöht. Joel Selvin Schnell

Der Artikel erschien im „San Francisco Chronicle“. Aus dem Amerikanischen von Meino Büning.

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