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Der große Lauschangriff im Äther

Elektronische Großtechnologie unterläuft das Fernmeldegeheimnis. Der Bundesnachrichtendienst überwacht den Fernmeldeverkehr im Äther. Jetzt steht die Legalisierung des Verfassungsbruchs bevor.  ■ Von Jürgen Seifert

Es gibt in Deutschland rund 33,6 Millionen Telefonanschlüsse, etwa eine Million Telefax-Besitzer und 112.000 Telexanschlüsse. Alle Benutzer dieser Anschlüsse müssen damit rechnen, daß durch Überwachungsanlagen, die insbesondere die Amerikaner entwickelt und im Kalten Krieg auch in Deutschland aufgebaut haben, das Fernmeldegeheimnis außer Kraft gesetzt wird. Was 1989 von der Bundesregierung noch bestritten wurde, ist Wirklichkeit: Der Bundesnachrichtendienst (BND) verfügt – so ein vertrauliches Dossier des Bundeskanzleramtes – „über technische Einrichtungen, durch die internationale, über Fernmeldesatelliten, Richtfunk oder Kurzwelle – also nicht leitungsgebunden – abgewickelte Fernmeldeverkehre erfaßt werden können. Durch den Einsatz von sog. Wortbanken, die mit Suchbegriffen oder Kombinationen unterschiedlicher Suchbegriffe ('bit-words‘) gespeist werden, können aus der großen Masse von Informationen diejenigen technisch herausgefiltert werden, die für den Aufklärungsauftrag des BND relevant sind.“

Zugleich ist es mit diesen Anlagen möglich, wie wir aus der Stasi- Praxis wissen, bestimmte Teilnehmer des Fernmeldeverkehrs herauszufinden. Der Bundestag als Ganzes hat weder über diese „Errichtung“ noch über ihre Inbetriebnahme entschieden; in der breiten Öffentlichkeit wurde die Sache nicht wahrgenommen.

Eine Rechtsgrundlage für diese neue Überwachungstechnologie gibt es nicht. Im Gegenteil: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner zweiten Abhörentscheidung vom 20.6.1984 ausdrücklich festgestellt, daß eine „globale“ Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Paragraph 3 des G10-Gesetzes „nicht gedeckt“ wäre. Heute existiert eine Großtechnologie, die durch solche „globale“ Erfassung heimliche Eingriffe in private Kommunikationsbeziehungen des Bürgers in einer Weise ermöglicht, daß grundsätzlich alle betroffen sein können, Unverdächtige und Unbeteiligte. Die Anlagen stellen nicht nur den herkömmlichen Grundrechtsschutz des Fernmeldeteilnehmers in Frage; sie sind als Angriff auf die (trotz allem) am Bürger orientierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu bewerten.

Als Sozialdemokraten 1968 einer Änderung von Artikel 10 Grundgesetz und zugleich dem Abhörgesetz zustimmten, meinten sie das Ei des Kolumbus entdeckt zu haben: Bei der Telefonüberwachung im Rahmen der Strafverfolgung sollte grundsätzlich ein Richter entscheiden; in Fällen der Spionageabwehr und der Bedrohung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung legte das Abhörgesetz fest, daß die Beschränkung dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird, daß aber an die Stelle der Nichtunterrichtung und der Ausschaltung des Rechtsweges die Kontrolle des vom Bundestag bestimmten „G10-Gremiums“ und die „Rechtskontrolle“ der von diesem Gremium gewählten dreiköpfigen „G10-Kommission“ tritt. Damals wurde schließlich als besondere, nicht personenbezogene Überwachung die Kontrolle bestimmter Post- und Fernmeldekommunikationen gestattet, um die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik abzuwehren. Diese „strategische Kontrolle“ ist nur unter Beteiligung des G10-Gremiums, der Rechtskontrolle durch die G10-Kommission und nur unter spezifischen Voraussetzungen zulässig, die das Bundesverfassungsgericht festgelegt hat.

Die Regelung hat nicht jeden Mißbrauch ausgeschlossen; aber sie hat sich bewährt. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem lange dauernde strategische Überwachungsmaßnahmen am Ende des Kalten Krieges hinfällig geworden sind, soll das damals geschaffene Instrumentarium zur Einbruchsstelle werden, um völlig neuartige elektronische Aufklärung zu legalisieren: Die bisher vom Bundesnachrichtendienst durchgeführte strategische Kontrolle soll ausgeweitet werden zur „globalen“ Erfassung von Fernmeldeverkehrsbeziehungen bei der Verbreitung von „Massenvernichtungswaffen“ und dem Verbringen von Betäubungsmitteln. Dabei wird nach der bisherigen Praxis (da es sich ja nicht um gezielte Maßnahmen gegen „bestimmte Personen und die von diesen benutzte Fernmeldeeinrichtugen“ handelt) die nachträgliche Unterrichtung Betroffener auch dann unterbleiben, wenn es auf der Grundlage erfaßter Informationen gelingt, die Partner der Fernmeldekommunikation zu identifizieren.

Werden die geplanten Verfassungs- und Gesetzesänderungen verabschiedet, dann bleibt der Bundesnachrichtendienst nicht mehr beschränkt auf Auslandsaufklärung; er erhält Kompetenzen in Bereichen, die traditionell Polizeiaufgaben sind. Das, was unter den Voraussetzungen von Anonymität als strategische Kontrolle entwickelt wurde, soll zu einem Instrument ausgebaut werden, um global und umfassend Fernmeldekommunikation zu kontrollieren. Die geschaffenen Einrichtungen sind technisch auch in der Lage, den Fernschreibverkehr zu erfassen (d.h. auch die jeweiligen Anschlußinhaber); nur für den Fernkopierverkehr sind sie (so das Bundeskanzleramt) „noch nicht hinreichend geeignet“.

BND und Bundesregierung scheuten sich bisher zu sagen, um was es geht. Es gibt Finten und Täuschungen, zugleich eine „neue Offenheit“. BND-Abteilungsleiter Gerhard Güllich spricht davon, daß der BND in der Lage sei, „Fernmeldeverkehre über Kurzwelle, Richtfunk und Satelliten (zu) empfangen, also alles, was nicht leitungsgebunden ist“, daß aber die Empfangsanlagen so geschaltet seien, „daß sie nur Auslandsverkehre und ... Verkehre vom Ausland nach Deutschland erfassen“. BND-Präsident Konrad Porzner reduzierte das Problem auf die Frage, daß ihm in wichtigen Fällen untersagt sei, erlangte Informationen weiterzugeben. Der zuständige Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt, Rudolf Dolzer, schreibt in einem Brief an Rupert Scholz, den Vorsitzenden der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, vom 22.12.1992: Der BND steht „hier zur Zeit vor den Schranken unserer Gesetze, die zur Folge haben, daß er der Bundesregierung Informationen ausgerechnet über die Beteiligung deutscher Firmen, die für sie von besonderem Interesse wären, nicht zur Verfügung stellen kann“.

Der BND will mehr als ein Recht auf Weitergabe angefallener Kenntnisse und Unterlagen aus G-10-Maßnahmen über illegalen Export von Massenvernichtungswaffen, Raketentechnologie und bestimmte konventionelle Waffen (wie dies seit 1992 durch das Außenwirtschaftsgesetz zulässig ist). Er beansprucht – weil die strategische Kontrolle ein auslaufendes Modell ist – ein originäres Recht, Fernmeldeverkehr auch zu kontrollieren, um Hinweise auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und das unbefugte Verbringen von Betäubungsmitteln zu erlangen. Nach dem Motto: Wir haben die milliardenschwere Einrichtung; nun gebt uns neue Aufgaben und Befugnisse, damit das keine Fehlinvestition wird und wir nicht Stellen abbauen müssen!

Man spricht von einem „Änderungsbedarf“ bei Art. 10 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz. Der bisherige Ausnahmekatalog soll ergänzt werden durch die Worte: „der Verhinderung internationaler Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder der Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs“.

Das schreckt nicht sofort ab; doch faktisch bedeutet dies die Legitimation einer gefährlichen Großtechnologie und neuer Kompetenzen für den BND. Langfristig setzen diese Einrichtungen den BND in Stand, lästige Kontrollen zu unterlaufen. So spricht Abteilungsleiter Dolzer nicht ganz ohne Neid bereits davon, daß die „ausländischen Partnerdienste des BND ihre Fernmeldeaufklärungstätigkeit ungehindert durch gesetzliche Regelungen“ verrichten könnten.

Es ist nicht gerade ein Ausweis für das analytische Vermögen des derzeitigen Vorsitzenden des G-10-Gremiums, SPD-MdB Hans de With, wenn er diese grundsätzliche Veränderung der strategischen Überwachung nicht erkennt und (so in der Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestages am 13.1. 1993) lediglich davon spricht, daß „offensichtlich eine Lücke im Gesetz“ entstanden sei, die „geschlossen werden müßte“. De With schwieg zu der Äußerung des Vertreters des Bundeskanzleramtes, Staubwasser, der betonte, der BND könne tätig werden, „sofern die innere Sicherheit des Landes als Ganzes bedroht ist“. Er stimmte (wie die übrigen SPD- Mitglieder im Rechtsausschuß) am selben Tage für einen Beschluß des Ausschusses über eine solche neue, den Sicherheitsbegriff ins Unscharfe verändernde Kompetenz des BND.

Abteilungsleiter Dolzer im Bundeskanzleramt spricht in einem Brief vom 22.12.1992 davon, daß die Parlamentarische Kontrollkommission des Bundestages, die beiden G-10-Gremien und das für die Geheimdienste zuständige Vertrauensgremium des Haushaltsausschusses über die Anforderungen des BND unterrichtet worden seien und von der Bundesregierung „erwarten“, den „Gesetzgebungsbedarf“ entsprechend zu formulieren. Mit keinem Wort wird gesagt, daß die vom Bundeskanzleramt inzwischen intern vorgelegten Texte zur Änderung des Grundgesetzes und des G-10-Gesetzes,

– die bisherige Arbeitsteilung der Geheimdienste zwischen Ausland- und Inlandaufklärung in Frage stellen,

– zu einer „Verpolizeilichung“ des BND führen,

– eine Aushöhlung der 1968 ersonnenen Kontrollinstitutionen bedeuten und

– der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Telefonüberwachung widersprechen;

mit anderen Worten: verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch als höchst problematisch angesehen werden müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 15.12. 1970 eine prinzipielle Nichtunterrichtung des Betroffenen dann für verfassungswidrig erklärt, wenn die Unterrichtung „ohne Gefährdung des Zwecks der Beschränkung erfolgen kann“. Das soll nicht mehr gelten. Eine Unterrichtung der Betroffenen ist nicht vorgesehen.

Ich fasse die verfassungsrechtlichen Bedenken wie folgt zusammen: Artikel 10 Abs. 1 Grundgesetz gewährleistet jedem Teilnehmer am Fernmeldeverkehr in der Bundesrepublik das Recht auf unüberwachte Telekommunikation. Alle Bewohner der Bundesrepublik können darauf vertrauen, daß sich die staatlichen Organe der Bundesrepublik jedes Eingriffs enthalten, der nicht durch die strikten Eingriffsbefugnisse für die in Artikel 10 Abs. 2 Grundgesetz genau definierten Ausnahmen gedeckt ist.

Hiernach darf der BND den Fernmeldeverkehr – neben der Individualkontrolle nach Paragraph 2 des G-10-Gesetzes – nur im Rahmen der „strategischen Kontrolle“ nach Paragraph 3 des G-10-Gesetzes überwachen. Für weitere Überwachungsmaßnahmen des Fernmeldeverkehrs (wie sie BND-Abteilungsleiter Güllich geschildert hat) fehlt dem BND die verfassungsrechtliche Grundlage. Der gesetzliche Auftrag des BND zu Auslandsaufklärung ist keine Eingriffsbefugnis im Sinne von Art. 10 Abs. 20 Grundgesetz.

Es spielt auch keine Rolle, ob der Fernmeldeverkehr von der Bundesrepublik ins Ausland geht oder vom Ausland aus in die Bundesrepublik gerichtet ist. Unter dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses steht nicht nur der leitungsgebundene Fernmeldeverkehr, sondern auch jeder Fernmeldeverkehr mittels Kurzwelle, Richtfunk und Satelliten in Beziehung zum Gebiet der Bundesrepublik. Der nicht leitungsgebundene Fernmeldeverkehr ist nicht „offen“, sondern wird durch Artikel 10 Grundgesetz geschützt, soweit er vom Territorium der Bundesrepubklik aus ausgestrahlt oder in der Bundesrepublik empfangen wird.

Daraus folgt: Das vom BND und von der Bundesregierung zugegebene Anzapfen des Fernmeldeverkehrs im Äther über dem Territorium der Bundesrepublik ist ein Verfassungsbruch. Dieser wiegt um so schwerer, als er mit ausdrücklicher Billigung der Bundesregierung begangen wird. Die parlamentarischen Kontrollorgane sind entweder ahnungslos oder schweigen aus Gründen der Staatsräson.

Es ist bezeichnend, daß sich nur der FDP-Bundestagsabgeordnete Burkhart Hirsch kritisch geäußert hat, daß aber SPD-Abgeordnete in der Öffentlichkeit zu der jetzt angestrebten Legalisierung des Verfassungsbruchs durch eine Änderung des Grundgesetzes schweigen. Wird die grundlegende Ausweitung der Kompetenzen des BND überhaupt erkannt? Werden die potentiellen Gefahren der neuen Großtechnologie nicht gesehen? Oder handelt es sich um den zwar ehrenwerten, aber verzweifelten Versuch, neue Techniken mit einem Kontrollinstrument aus Opas Zeiten einzuhegen?

Es besteht die Gefahr, daß in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat die Bedeutung eines überraschend eingebrachten Antrages nicht erkannt und ohne öffentliche Diskussion eine schwerwiegende Änderung des Grundgesetzes vorgenommen wird. Wenn das geschieht, hat sich für Helmut Kohl die Berufung des früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Konrad Porzner zum BND-Chef gelohnt.

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