: Crash-Kurse gegen sexuelle Gewalt
„Anna O.“ – ein für die Bundesrepublik bisher einmaliges Weiterbildungsinstitut, das Hilfe zur Selbsthilfe bieten will für die Arbeit mit den Überlebenden sexueller Gewalt ■ Von Karin Flothmann
Berlin (taz) – Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, vor allem die systematischen Massenvergewaltigungen, haben die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt. Weltweit berichteten die Medien in aller Ausführlichkeit von den Greueln in Bosnien. Vergessen wurde jedoch nur allzu schnell, daß die Gewalt gegen Frauen auf dem Balkan nicht isoliert für sich steht. Weltweit werden Frauen täglich mit sexueller Gewalt konfrontiert. Und gleichzeitig fehlen weitgehend immer noch kompetente Hilfsangebote für die Überlebenden der sexuellen Gewalt. Denn daß Frauen, die vergewaltigt wurden, oft noch jahrelang, wenn nicht ihr Leben lang, unter den Folgen der sexuellen Erniedrigung leiden, beweisen längst die Erfahrungen der feministischen Anti-Gewalt-Arbeit in Notrufen oder Frauenhäusern.
Das „Institut Anna O.“ soll diesem Mißstand ein Ende setzen. Und so luden gestern Vertreterinnen von Bündnis 90/Grüne (AL) und Unabhängigem Frauenverband zu einer Anhörung in den Berliner Reichstag, um den Prozeß eines solchen „Aus- und Fortbildungszentrums für die Bewältigung von (sexueller) Gewalt an Frauen“ ins Rollen zu bringen. Rund 50 Fachfrauen aus der Berliner Anti-Gewalt-Arbeit kamen, um gemeinsam ein Konzept für das Institut zu diskutieren.
Hinter allem steckt der Gedanke, Hilfe zur Selbsthilfe vor Ort zu ermöglichen. „Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien“ so Bosjlika Schedlich vom „Zentrum Süd- Ost Europa“, „könnten in diesem Institut in vier Monaten einen Crash-Kurs absolvieren, um dann in Bosnien oder Kroatien den Überlebenden der Massenvergewaltigungen kompetente Hilfe anzubieten.“ Berlin als Standort für ein „Institut Anna O.“ hält sie aufgrund der geographischen und politischen Lage – „genau auf der Drehscheibe zwischen Ost und West“, wie Berliner PolitikerInnen gern betonen –, aber auch aufgrund der hier vorhandenen Fachkompetenz von Frauen für ideal. „Berlin sollte damit zu einem Zentrum für eine andere Politik werden, eine Politik gegen den Krieg, gegen die Gewalt gegen Frauen.“
Daß der Bedarf selbst innerhalb der Bundesrepublik groß wäre, betonten vor allem Vertreterinnen der Ostberliner Frauenhäuser. „Bei uns stürzten sich Frauen nach der Wende einfach ins kalte Wasser und begannen, Frauenhäuser zu eröffnen“, meinte Marion Tiemann vom Ostberliner „Frauenraum“. Mittlerweile bekommen sie und ihre Mitarbeiterinnen aus den neuen Bundesländern immer wieder die Frage gestellt, wo und wie frau sich mehr Wissen und Fachkompetenz aneignen könnte.
Und auch die internationale Ausrichtung würde sich, das zeichnet sich heute schon ab, bewähren. Immerhin gibt es in verschiedenen Ländern der Welt Bemühungen, Behandlungszentren für Folteropfer aufzubauen. So beispielsweise in der türkischen Stadt Diyarbakir, wo seit dem Golfkrieg eine Initiative kurdischer ÄrztInnen und PsychologInnen versucht, ein Behandlungszentrum aufzubauen. „In der kurdischen Gesellschaft“, so Aso Agace vom Bildungs- und Beratungszentrum für kurdische Frauen, „ist sexuelle Gewalt ein großes Tabu.“ Vor allem, weil viele kurdische Frauen gar nicht wagen, davon zu erzählen, müßten Psychologinnen eines Behandlungszentrums sensibilisiert sein für die Folgen dieser Gewalt.
Daß auch viele Frauen in Berlin sexuelle Gewalt kaum als solche realisieren, zeigt sich vor allem in der Arbeit der Frauenhäuser. „Die meisten, die zu uns kommen, sind in der Ehe vergewaltigt worden“, berichtet Pinar Ilkkaracan vom Zweiten Berliner Frauenhaus. Doch auch in der Bundesrepublik greifen Tabus, Vergewaltigung in der Ehe ist immer noch keine Straftat, und daher „gestatten sich Frauen oft erst nach langer Zeit, die erlebte sexuelle Gewalt auch als solche zu empfinden“.
Daß im geplanten „Institut Anna O.“ nicht nur Wissen vermittelt werden soll, war gestern allen klar. Gesetzt wird vor allem auf den interkulturellen Austausch. „In vielen Ländern“, so Pinar Illkaracan, „haben Frauen das Schweigen über sexuelle Gewalt aufgebrochen.“ Sie verwies auf Anti-Gewalt-Projekte in Chile, Venezuela und Brasilien, auf ein Projekt der Unifem, der Frauenorganisation der Vereinten Nationen. „Die Gewaltformen sind sicherlich auch kulturspezifisch geprägt, aber die Erfahrungen, die Frauen in der Anti-Gewalt-Arbeit machen, gehen über die Grenzen von Religion, Ethnie oder Klassenzugehörigkeit hinaus.“
Ein erster internationaler Austausch konnte gestern gleich stattfinden. Terry German, Koordinatorin des Projekts SART (Sexual Assault Response Team) in Santa Cruz, Californien, berichtete von ihrer gut 20jährigen Praxis in der US-amerikanischen Anti-Gewalt- Arbeit. Und sie plädierte vehement dafür, nicht, wie es derzeit gern in der Berichterstattung über Frauen in Bosnien geschieht, von den Opfern zu sprechen. Frauen, die sexuelle Gewalt erleben mußten, sind immer Überlebende, traumatisierte Überlebende, deren Erfahrungen zu den Alltagserfahrungen von Frauen gehören.
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