: Ende einer Testfahrt
Björn Engholm ist lange vor der Zielgeraden, der Konfrontation mit Kohl im kommenden Wahljahr, aus dem Rennen ausgestiegen. Gestern war der Tag der Erbschleicher. Schon am Wochenende, zwei Tage vor der gestrigen Ankündigung des SPD-Kanzlerkandidaten, er werde aus den Nachwehen der Barschel-Affäre die Konsequenzen ziehen, hatte sich das Nachfolgerkarussell heftigst gedreht.
Einige Mitarbeiter der SPD- Parteizentrale haben auch gestern mittag die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt. „Björn, mach' weiter!“, schreit es in roter Sprayfarbe von einem Transparent, das Angestellte der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit gut sichtbar hinter dem Eingang aufgehängt haben. Auf zwei Fernsehschirmen, die unten aufgestellt sind, wird unterdessen ein Interview mit dem Noch-Parteivorsitzenden wiederholt, das keinen Zweifel läßt: Mit diesem Lebensabschnitt hat Björn Engholm bereits abgeschlossen.
Wenn man „jeden Tag wie Frischfleisch vorgeführt und einmal pro Woche geschlachtet wird“, sagt der TV-Engholm, dann sei das kein „vergnügliches bürgerliches Leben“. Es klingt so, als würde er die Gelegenheit zum Rücktritt fast schon dankbar ergreifen. Das Transparent, das ihn zum Bleiben auffordert, kann er gar nicht sehen, denn genauso wie Johannes Rau, Oskar Lafontaine und Hans-Ulrich Klose betritt er das Ollenhauer-Haus durch die Tiefgarage. Mit ihnen hatte Engholm unmittelbar vor der SPD-Präsidiumssitzung in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung konferiert und – so spekuliert man – die Frage der Nachfolge erörtert.
Als Engholm und Johannes Rau am Nachmittag dann vor die Presse gingen, war also niemand mehr überrascht, daß Engholm von allen Ämtern zurücktritt. Und auch nicht, daß in der Präsidiumssitzung die Entscheidung für einen Nachfolger offengeblieben ist. „Als dienstältester stellvertretender Vorsitzender wird Johannes Rau bis auf weiteres die Parteiführung übernehmen“, heißt es lapidar. Der NRW-Ministerpräsident verweigert hartnäckig jede Auskunft über wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Kandidaten. Jetzt will es die SPD so machen, wie es sich gehört. Präsidium, Parteivorstand, Parteirat – am Ende wird der Parteitag die Engholm- Nachfolge bestimmen. Der glücklose SPD-Chef und Kanzlerkandidat zeigt sich sichtlich erleichtert – und erstaunlich generös. Nein, nicht die innerparteiliche Kritik habe zu seinem Entschluß geführt. „Ein wenig sauer“ sei er schon, hatte er am Morgen immerhin eingeräumt. Im übrigen gesteht er seinen Fehler ohne Umschweife ein. Zwar wirbt er um Verständnis, aber reinwaschen will er sich nicht.
Daß im Präsidium auch über Loyalitäten gesprochen wurde und darüber, daß sie nicht nur einmal verletzt wurden, gibt Johannes Rau nur indirekt zu erkennen. Einigen habe es „an Disziplin gemangelt“, so der frischgekürte Moderator. Aber Rau befindet auch: „Es spricht nicht gegen die SPD, wenn mehrere Namen genannt werden.“
Bei der Vorbesprechung im engeren Kreis der Parteiführung nicht dabei waren Gerhard Schröder und Rudolf Scharping: die beiden Männer, die am häufigsten als mögliche Kanzlerkandidaten gehandelt werden. Sollte es Spitz auf Knopf kommen, würden sich wohl die Linken um Schröder und die Rechten um Scharping sammeln. „Der Scharping ist doch strukturell rechts“, schimpft ein Bundestagsabgeordneter. Schröder empfangen dafür einige gellende Pfiffe, als er das Ollenhauer-Haus betritt: Er hat sich in den letzten Wochen zu offensichtlich als möglicher Nachfolger feiern lassen.
Rasch muß die Erbschaftsfrage geklärt werden, wünschen sich einige Spitzensozis. „Eine Hängepartie“ über die Sommerpause hinweg dürfe es nicht geben, warnt etwa Günter Verheugen, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Freilich sieht auch er wenigstens sechs mögliche Namen für den Parteivorsitz und vier potentielle Kanzlerkandidaten.
Es ist der Tag der Erbschleicher. Schon das Wochenende über drehte sich das Karussell mit wachsendem Tempo. Neben Schröder und Scharping kam die bayerische SPD-Chefin Renate Schmidt ins Gespräch. Dann gibt es noch Heidemarie Wieczorek-Zeul, die sich viele Parteilinke zumindest als Vorsitzende vorstellen können. Saarländische Sozialdemokraten schieben ihren Ministerpräsidenten Lafontaine nach vorne. „Er würde wohl gerne gebeten“, sagen informierte Genossen in Bonn. Und natürlich könnte Johannes Rau zumindest für eine Interimsphase als Parteichef amtieren. Sogar Helmut Schmidt sieht sich genötigt, Interesse an einer Kandidatur zu dementieren.
Schmidt, Rau, Lafontaine – soviel Vergangenheit war nie, scheint es. „Bloß kein Auslaufmodell!“, stöhnt ein Abgeordneter. Gelte es doch vor allem, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Zumindest einer der beiden obersten Genossen, wünschen viele Sozialdemokraten, sollte in Bonn residieren. Ein Kanzlerkandidat, der nur ab und zu und eher zufällig in Bonn vorbeischaut, das möchte man ungern wiederholen. Die Genossen haben das mit Rau und Lafontaine erlebt und „ganz extrem“, sagt einer, unter Engholm daran gelitten. Das reicht.
„Wir sind 130 Jahre alt und werden auch das überstehen“, kommentiert Bundesgeschäftsführer Blessing die Querelen. Der 35jährige Engholm-Vertraute beweist Galgenhumor, denn ob er den Abgang seines Mentors übersteht, darf als durchaus offen gelten. Daß mitten in der Vorbereitung des Wahljahres 1994 überall im Ollenhauer-Haus die Köpfe rollen, ist dennoch ein vergleichsweise bescheidenes Problem für die alte Tante SPD. Engholm hat seinen Genossen mit seiner langen Entscheidungsklausur genug Zeit gelassen, damit allen zumindest eines klar werden konnte: der Wechsel von der Führungsmannschaft der sozialliberalen Koalition zu den von Willy Brandt so titulierten Enkeln ist der Partei gründlich mißlungen. Statt der planmäßigen Machtübergabe an die Modernisierer hat Brandts – ebenfalls unplanmäßiger – Rücktritt 1987 nur einen Reigen des Scheiterns eröffnet. Lafontaine mußte als Parteichef zunächst hinter Vogel zurückstehen, um dann als Kanzlerkandidat mit Vogel und Brandt über die Deutschlandpolitik in Konflikt zu geraten. Danach zerfiel die Enkelgeneration: nicht im Team, sondern im Widerstreit konkurrierender Ansprüche agierten Schröder, Engholm, Lafontaine, Däubler- Gmelin, Klose überwiegend gegeneinander. Die SPD solle sich trotz des Drängens auf schnelle Entscheidung Zeit lassen, meinte Peter Glotz. Schließlich könne die Macht wieder geteilt werden. In zwei Händen sei sie nur kurze Zeit, unter Willy Brandt, gewesen. Mit der Troika Wehner, Schmidt und Brandt ist die SPD tatsächlich nicht schlecht gefahren. Hans-Martin Tillack und
Tissy Bruns, Bonn
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