: Die Last der Vergangenheit
Einst saß Mao in seiner Höhle in Yanan und plante die Eroberung ganz Chinas. Heute ist der Ort Pilgerziel für Revolutionstouristen. ■ Von Catherine Sampson
Zhang Qianyi sitzt im Hof vor seiner Höhlenwohnung und erinnert sich an den langen Marsch, mit dem er 1936 nach Yanan kam. „Damals herrschten harte Zeiten“, sagt der 72jährige Zhang voll Nostalgie über den Bürgerkrieg der Kommunisten gegen die Nationalisten. „Aufgrund der objektiven Bedingungen glaubten wir an Sparsamkeit und Vertrauen auf die eigene Kraft. Jetzt haben sich die Dinge geändert. Das ist gut, die Menschen führen ein neues Leben. Sie verdienen mehr Geld und geben mehr Geld aus.“ Zhang, der früher unter dem Kommando des inzwischen zum obersten Führer aufgestiegenen Deng Xiaoping kämpfte, billigt die Veränderungen, die über China hinweggefegt sind, seit Deng im letzten Jahr wieder auftauchte und Wirtschaftsreformen im kapitalistischen Stil forderte. Doch wenn er aus seiner Hügelwohnung über Yanan schaut, ist sich Zhang bewußt, daß Dengs Wirtschaftspolitik seiner Stadt noch nichts gebracht hat. „Yanan ist viel weiter zurück als die Küstengegenden“, gibt Zhang zu, „aber das Parteizentrum hat Yanan niemals vergessen. Die Veränderungen werden Schritt für Schritt vor sich gehen. Yanan ist eine Stadt im Inland.“
Vor über vierzig Jahren suchten die chinesischen Kommunisten in der entlegenen Stadt Yanan in der nordwestlichen Provinz Shangsi Schutz vor den Bombenangriffen und Einkreisungsfeldzügen der Nationalisten. Yanan war in den zehn Jahren von 1937 bis 1947 Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, und es ist zum Symbol der Werte geworden, die den Langen Marsch der Kommunisten kennzeichneten – die Werte des Vertrauens auf die eigene Kraft, der Sparsamkeit und harten Arbeit. Als die Kommunisten in Peking einmarschierten, rühmten sie ihre Basis in Yanan als das Herzland der Revolution. Wenn man jetzt dorthin zurückkehrt, hat man eher den Eindruck, als sei Yanan in der Zeit stehengeblieben.
Natürlich ist es nicht mehr die winzige Stadt von 4.000 EinwohnerInnen und einem Auto wie bei der Ankunft der Roten Armee, trotzdem hinkt Yanan hinterher. Die ehemaligen Wohn- und Arbeitsräume des Vorsitzenden Mao sind sämtlich liebevoll bewahrt, obwohl nur wenige der ursprünglichen Möbelstücke überlebten. Ein Museum dokumentiert den Ruhm von Yanans Vergangenheit und zeigt sogar das Pferd des Vorsitzenden Mao, ausgestopft für die Nachwelt. Im Sommer arrangieren Staatsbetriebe im ganzen Lande Reisen nach Yanan, um die politische Erziehung ihrer Belegschaften zu fördern – etwa 480.000 Menschen begeben sich jedes Jahr auf diese Pilgerfahrt. Aber im Winter, ohne die Schwärme ideologisch motivierter Touristen, liegt Yanan verlassen – seine Armut und Provinzialität werden sogar dem flüchtigsten Beobachter offensichtlich.
Smog liegt über der Stadt. Er verstärkt das einheitliche Grau. Yanan kann sich nicht der Neonlichter und farbenfrohen Privatläden rühmen, die es in anderen Städten Chinas gibt. Zwar ist die Stadt nicht mehr ganz so entlegen wie noch in den Dreißigern, aber sie ist schwer zu erreichen. Verlassen liegt sie in den dunkelgelben Lößhügeln der Provinz Nord- Shangsi. Von der Provinzhauptstadt Xian dauert die Fahrt nach Yanan einen Tag über gefährliche Bergstraßen. Einmal täglich fährt ein Zug. Yanan hat zwar auch einen Flugplatz, doch im letzten Jahr wurden die Flüge eingestellt, weil sie keinen Gewinn einbrachten.
Wenige ausländische Investoren begeben sich auf diese Reise. Es gibt in der Stadt nur ein einziges Joint-venture – eine Fabrik für Feuerzeuge, die zusammen mit einer Firma aus Taiwan betrieben wird. Immerhin paßt dieser Betrieb gut zum anderen Hauptbetrieb der Stadt, der jährlich 70.000 Kartons Zigaretten produziert. Er wurde, wie so viele andere Fabriken der Leichtindustrie, vor 1949 erbaut; Teile der Produktionsausrüstung stammen fast vom Beginn des Jahrhunderts. Ein Vertreter der Stadtverwaltung, der ausländische Yanan-Besucher herumführt, will sie lieber zu einer Investition in seinem Projekt überreden, als sie mit Propaganda über Yanans glorreiche Vergangenheit zu bedenken. „Wir haben Apfelbäume, aber niemand macht Apfelsaft. Ich habe den idealen Ort für eine Saftbereitungsanlage gefunden“, fügt er hinzu und bittet: „Ich weiß, es ist nicht Ihr Job als Journalist, aber wenn Sie nur irgendeinen Investor finden könnten...“
In einer Stadt von drei Millionen EinwohnerInnen sind nur etwa 15.000 in Privatunternehmen beschäftigt. Die vorhandenen Privatunternehmen sind durchweg Kleinbetriebe. Etwa die Hälfte der Bevölkerung von Yanan lebt in einfachen Höhlenwohnungen, die in die Hügel gegraben sind, sehr ähnlich jenen, in denen der Vorsitzende Mao lebte und arbeitete; Elektrizitäts- und Wassermangel gehören zum Alltag. In vielerlei Hinsicht ist Yanan typisch für das, was im chinesischen Hinterland passiert. Es fällt weit zurück hinter die Gegenden des Südens und an der Küste, behindert durch seine Unzugänglichkeit, schlechte Infrastruktur und Vernachlässigung. So ziemlich das einzige, was Yanan von der Zentralregierung erhält, ist eine Armutsbeihilfe von über 12 Millionen Yuan jährlich. StadteinwohnerInnen haben ein durchschnittliches Monatseinkommen von 102 Yuan – etwa die Hälfte dessen, was normalerweise in einer besser entwickelten Stadt wie der Provinzhauptstadt Xian zu erwarten ist. LandbewohnerInnen verdienen nur ca. 45 Yuan monatlich.
Eigentlich müßte Yanan viel wohlhabender wirken. Es produziert 200.000 Tonnen Öl jährlich, und die lokale Verwaltung ist zumindest theoretisch berechtigt, die Einnahmen aus dem Öl für die lokale Entwicklung zu nutzen. Doch die Einnahmen scheinen sich bislang kaum niederzuschlagen. „In der Vergangenheit“, sagt der stellvertretende Bürgermeister Fen Yi, „unterschieden sich die Gegenden an der Küste gar nicht so sehr von Yanan. Der Unterschied liegt in der Vorzugsbehandlung, die sie inzwischen erhalten haben.“ Teilweise mag Yanans revolutionäre Vergangenheit dafür verantwortlich sein. Vertreter der Provinzregierung ernteten häufig Kritik wegen ihres konservativen Denkens und ihrer mangelnden Bereitschaft, ökonomisch zu experimentieren. Jahrelang war in Chinas kommunistischer Phraseologie der sog. Geist von Yanan gleichbedeutend mit Vertrauen auf die eigene Kraft und harter Arbeit. Nun betont Fen Yi: „Das ist keine in sich geschlossene, konservative Denkweise.“ Es wird jedoch eine Weile dauern, bis der Bedeutungswandel dieser Parole in der Realität seinen Niederschlag finden wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen