: Ein Kampf auch um die Selbstachtung
Am Ende der zweiten Streikwoche treibt der Tarifkonflikt in der ostdeutschen Metall- und Stahlindustrie auf die Alternative Kompromiß oder „Flächenbrand“ zu. Für die IG Metall steigt der Erfolgsdruck mit jedem Streiktag.
Seit sechs Wochen wird den Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie und in der Stahlbranche Ostdeutschlands ein Teil des ihnen zustehenden Lohns vorenthalten. „Worauf sollen wir denn noch warten?“ schimpft Michael Böhm, Sprecher der IG Metall in Berlin-Brandenburg. Also wird ab Anfang nächster Woche auch in seinem Tarifbezirk der Streik beginnen, ebenso wie in Thüringen und Sachsen-Anhalt. Ein Aufschub des Streikbeginns wegen der heute beginnenden Verhandlungen in Sachsen, meint Böhm, könne er in den Betrieben niemandem mehr erklären.
„Wenn auch dieser Versuch scheitert, gibt es einen Flächenbrand in ganz Ostdeutschland“, heißt es in der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt. Und das klingt eher nachdenklich als kampfesmutig. Denn der Erfolgsdruck für die Gewerkschaft steigt mit jedem Streiktag, mit jeder Ausweitung ihrer Aktionen. Der Arbeitskampf mutet den aktiv am Streik Beteiligten nicht nur durchwachte Nächte vor den Werkstoren, nicht nur den Nervenkitzel des unmittelbaren Konflikts mit dem Arbeitgeber zu, sondern auch beträchtliche materielle Opfer. Das Streikgeld beträgt rund zwei Drittel des regulären Lohns; das macht für die meisten nicht gerade üppig lebenden Streikenden 120 bis 140 Mark Einbuße pro Streikwoche. Aber es geht nicht mehr nur ums Geld. Längst ist der Arbeitskonflikt für viele Menschen in Ostdeutschland zum Kampf um Selbstachtung und Selbstbehauptung geworden. „Wir wollen nicht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden“, heißt es häufig auf den Streikkundgebungen vor den Werktoren.
Gestreikt wird ab Anfang nächster Woche in ganz Ostdeutschland, aber verhandelt wird nur im Tarifbezirk Sachsen. In Berlin- Brandenburg herrscht seit Konfliktbeginn „Funkstille“ zwischen der Gewerkschaft und den Arbeitgebern von Metall und Stahl. In Mecklenburg-Vorpommern hat sich IGM-Bezirksleiter Teichmüller mit einem Brief an die Geschäftsführungen der 31 bestreikten Betriebe gewandt: weil die Arbeitgebervertreter offensichtlich kein ernstzunehmendes Verhandlungsmandat von ihrem Verband hätten, biete er den Abschluß einzelbetrieblicher Tarifabkommen an. Nur so könnten sie für ihre Betriebe den Arbeitskampf verkürzen. Eine Antwort hat Teichmüller noch nicht erhalten. Alles starrt auf die Verhandlungen in Dresden, bei denen Sachsens Ministerpräsident Biedenkopf wieder die Moderation übernehmen soll.
Die Unsicherheit ist auf beiden Seiten nicht zu übersehen. Die IG Metall mußte Anfang der Woche ihren Bevollmächtigten in Suhl zurückpfeifen, der mit einem betrieblichen Tarifvertrag vorgeprescht war. Und die Arbeitgeber schwanken zwischen Annäherungsbereitschaft in den regionalen Verhandlungen und Hardliner-Positionen aus der Kölner Gesamtmetallzentrale. So hatte man sich bei den schließlich abgebrochenen Gesprächen in der letzten Woche bereits darauf verständigt, am Prinzip mehrjähriger Stufenpläne festzuhalten, als Gesamtmetall-Präsident Gottschol mit einem Interview dazwischenfunkte: Stufenvertrag ja, aber nur für ein Jahr – also eine Absage an die Perspektive einer mittelfristigen Lohnangleichung auf 100 Prozent des Westniveaus.
Am Montag haben die Arbeitgeber in einer Besprechung mit Vertretern aus den bestreikten Unternehmen Sachsens ihre Verhandlungsposition festgeklopft: der Forderung der IG Metall, den Tarifvertragsbruch rückgängig zu machen, erteilten sie eine klare Absage. Einen neuen Tarifvertrag will man nicht an der Frage des Stufenplans scheitern lassen. Die einzelnen Stufen müßten jedoch wirtschaftlich verkraftbar sein. Ein verbindlicher Zeitplan für die Lohnangleichung wird abgelehnt. Außerdem halten die Unternehmer an ihrer Forderung nach einer betrieblichen Öffnungsklausel fest, die es den Betrieben bei wirtschaftlichen Notlagen erlaubt, unter Tarif zu zahlen. Falls die beiden Tarifvertragsparteien sich darauf nicht verständigen könnten, solle eine Schiedsstelle verbindlich entscheiden.
Wenn die Arbeitgeber auf diesen Ausgangspositionen beharren, wird es bei den Dresdner Verhandlungen keinen Kompromiß geben. Die IG Metall kann weder auf einen verbindlichen Zeitplan für die Angleichung auf 100 Prozent verzichten, noch einer Öffnungsklausel zustimmen, deren Regularien auf einzelbetriebliche Verhandlungen zugeschnitten sind. Denn Betriebsräte können sich erpresserischem Druck ihrer Arbeitgeber schwerer entziehen als die überbetriebliche Gewerkschaftsorganisation. Statt dessen schlägt die IG Metall eine „Härteklausel“ vor, wonach in Ausnahmefällen „betriebsbezogene Verbandstarifverträge“ für eine Höchstdauer von 12 Monaten abgeschlossen werden können, um etwa eine drohende Zahlungsunfähigkeit zu verhindern. Derartige Ausnahmeregelungen sollten an strenge Bedingungen geknüpft werden, die jede Möglichkeit des Mißbrauchs ausschließen. Und die Basis soll gefragt werden; nur bei einer Zustimmung von 75 Prozent der Belegschaft soll die Härteklausel in den Betrieben wirksam werden.
Die Positionen zu Stufenplan und Öffnungs- bzw. Härteklausel liegen zwar nach wie vor weit auseinander, die Kluft scheint aber nicht völlig unüberbrückbar zu sein. Aber wie eine Einigung über die seit dem 1. April fällige Lohnerhöhung aussehen soll, steht in den Sternen. Die IG Metall steht bei ihren ostdeutschen Mitgliedern und bei den rund 44.000 Streikenden im Wort, daß die im aufgekündigten Tarifvertrag vorgesehene Anhebung der Löhne und Gehälter auf 82 Prozent des Westniveaus durchgesetzt wird. Lediglich über die Verrechnung von Urlaubstagen und Leistungszulagen könne man die reale Erhöhung ein wenig drücken, etwa von 26 auf 21 Prozent. Die Arbeitgeber wissen zwar, daß es bei ihren bisher angebotenen neun Prozent nicht bleiben wird. Aber die 82 Prozent Westniveau sind für sie, mit oder ohne rechnerischer Kosmetik, nicht akzeptabel. Martin Kempe
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