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Die „Ratten“ auf dem Weg ins Zentrum

Jeremy Weller hatte sie aus der Volksgosse auf die Volksbühne geholt: Was wurde aus den „Ratten“?  ■ Von Christian Füller

Johan Galtung erklärte das Verhältnis zwischen unterentwickelter „Dritter Welt“ und reichen Industriestaaten als ein Verhältnis „struktureller Gewalt“. Sie sei gekennzeichnet von Interessendisharmonie, die die Kluft zwischen Arm und Reich am Weltmarkt vertiefe und verfestige. Strukturelle Gewalt sei die Möglichkeit der Machtausübung der Nation im Zentrum über die an der Peripherie. Der norwegische Politikwissenschaftler Galtung ist ein findiger, ein faszinierender Kopf. Dennoch verschwand auch seine „strukturelle Theorie des Imperialismus“ im Orkus der Entwicklungstheorien. – Darüber hätten wir beinahe vergessen, daß zu Galtungs Modell auch der Riß gehörte, der die Gesellschaften ihrerseits in Zentrum und Peripherie teilt.

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Jürgen zerhackt mit dem Beil eine Dose Erbsen. Die grünen Kügelchen kullern über einen Teppich, den das Gros der Zuschauer im Kellertheater Mulackstraße 22 widerwillig auch nur betreten würde. Aber Jürgen ißt die vom Teppich gekratzten Erbsen. Shocking. Den Zuschauern wird es mulmig. Sie waren schon Voyeure, als sie sich für „Olympia 2000, ein vermögenswirksamer Abend“ entschieden: Armut hat ihren Reiz.

Das Obdachlosentheater „Ratten“ balanciert auf der Grenze zwischen dem Zentrum und der Peripherie der neuen Bundesrepublik. „Bist Du von hier?“ muß sich das Publikum fragen lassen, „von hier aus dieser Stadt?“ – „Ich war auch mal von hier. Aber mir haben sie die Brücke geklaut.“ Die Brücke, Schlafplatz der Penner und zugleich Sinnbild peripheren Daseins: als der einzig moralisch vertretbare Ort in der „Marktwirtschaft“. Nun kommt Olympia mit seiner Bauwut und stiehlt „den Assis“ die Brücke.

Die Reichen, Zentrum der Gesellschaft, und ihre politischen Repräsentanten, veranstalten eine neue Form des Imperialismus: Kein Brot, aber Spiele für das Volk. Das Zentrum macht damit Millionen. Unten gibt's Eintrittskarten für den Hundert-Meter- Lauf. Ganz unten hätten die Obdachlosen früher die Aschenbahn kehren dürfen. Heute ist's Tartan, und in der Stadt wird die Nichtseßhaften niemand sehen wollen. Wie wird die Haupt- und Olympiastadt diesmal gesäubert?

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Jeremy Weller, der englische Regisseur, hatte die Ratten aus den Berliner Armenküchen in die Volksbühne geholt. Als seine „Pest“ abgespielt war, flog Weller back to Britain, die Show war vorüber. Aber die Ratten wollten weitermachen. Mit Roland Brus, Wellers Assistent und junger Regisseur, stehen sie nun am Scheideweg. Jumbo, Axel, Hunni, Andy, Jürgen sind fast schon berühmt. Alle Welt schreibt über sie, sendet sie, begafft sie. Zurück in die Gosse können sie nicht. „Die meisten würden kaputtgehen, wenn sie wieder auf die Straße müßten“, sagt Jürgen, Autor obdachloser Gedichte, „nach dem, was sie hinter sich gebracht und dem Erfolg, den sie gehabt haben.“

Die Ratten sind also weg von der Straße, aber ihre unsichere Existenz haben sie nicht verlassen. Vom Sozialamt holen sie sich die Stütze, und alle Freitage erspielen sie sich ein paar Mark Gage in der Mulackstraße, vis-à-vis der großen Volksbühne. Das verwinkelte Geviert des Scheunenviertels war von jeher die Heimat einer eigenen Subkultur. Arme Leute, Huren, Trödler und Schwule verkehrten hier. Roland Brus gibt der diffusen Peripherie der Gesellschaft Ort und Namen: „Mulackei“ heißt sie im neusten Stück der „Ratten“. Es ist ein Land, ein Eiland, auf dem die obdachlosen Robinsons landen. Die Mulackei als Insel, „die zugleich Ort der Isolation und Möglichkeitsraum“ ist. Auch hierher werden die Voyeure aus dem Zentrum wieder kommen. Ihre Landung lade „zum Erkunden verschiedenster Fremdheitserfahrungen und damit zur Ortung des Eigenen“ ein. Die Obdachlosen sind nicht mehr stumm. Durch das Theater haben die „Männer, die keine Stimme mehr hatten“ (Brus), Sprache und Mündigkeit zurückbekommen. „Unsere Arbeit kommt aus dem Schrei“, sagt Roland Brus, der längst einer der ihren geworden ist. „Sie sollen ihre Geschichte erzählen“, und das tun sie nicht mehr nur im Kellertheater. Das Stück beginnt auf der Straße: Mulackei.“

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Die Mulackei ist das Land der sichtbar gemachten Armut, der wir sonst am U-Bahn-Schacht begegnen. Wir wenden den Kopf von ausgestrecktem Arm und Pappschild. Längst ist die Armut näher herangeschlichen, als mancher zu hoffen wagt. Der Pauperismus klopft bei Nachbars mit den beiden netten Kindern. Nur der Papi arbeitet, oder Mami ist alleinerziehend. Die Miete steigt, und schon dreht sich die Armutsspirale. Zehn Prozent leben am Existenzminimum. Nur in einem Mietsprung, einer Kündigung, besteht die „relative Armut“. Viele verstecken die Armut und wagen nicht den berechtigten Gang zum Sozialamt, vor allem im Osten der Stadt. 36.000 Sozialhilfeempfänger „drüben“ stehen den 113.000 im Westen gegenüber. Auch diese Wiedervereinigung wird kommen.

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Für die Ratten ist die „Mulackei“ so etwas wie ein morsches Sprungbrett. Entweder sie schaffen den Sprung aus der Obdachlosigkeit, oder das Brett kracht. Derzeit ist der Zustand schwebend. Mal heißt es daß das Projekt „aufgrund der angespannten Haushaltslage aus eigenen Mitteln nicht abzusichern ist.“ Andererseits ist es „einfach so“, „daß wir das für förderungswürdig halten“, so die Sprecherin der Sozialsenatorin. Andere finden das auch. Der Kultursenator hat etwas gegeben, das Bezirksamt Mitte, eine Stiftung und Siemens. Letztere wollen aber nicht erwähnt werden mit ihrer „Aufmunterungsspende“, wie es sie selber nannten. Verwaltet wird dies alles vom „Verein der Freunde der ,Ratten‘“.

Die Arbeit ist also vorerst gesichert. Bleibt der Lebensunterhalt, die materielle Basis von Jürgen und den anderen. Die liefert das Sozialamt. Ein Kleiderzuschuß von 584 Mark (234 im Sommer, 350 im Winter) und 509 Regelsatzmark per Monat, die eigentlich mit den „Gagen“ verrechnet werden müßten. Aber im Kellertheater haben doch nur 30 Leute Platz, gespielt wird gerade mal einmal die Woche.

Die Sozialhilfe soll das Existenzminimum sichern und menschenwürdiges Leben ermöglichen. Aber das „soziale Netz“ ist klebrig. Wer da reingefallen ist, muß zum Beispiel Herrn Josef Schültke fragen. Der Referatsleiter „arbeitsmarktpolitische Angelegenheiten des Sozialwesens“ listet die amtlichen Sprungbretter auf. BSHG (Bundessozialhilfegesetz) 19 etwa. Hier nicht in Anschlag zu bringen, weil „Ratten“ nicht abhängig Beschäftigte sind. O-Ton aus Olympia 2000: „Den ganzen Tag ranklotzen? – Keinen Bock drauf, da spiel' ich lieber Theater.“ Also Existenzgründerhilfe BSHG 30. Das kaum vermutete Katapult von der Gosse ins Unternehmertum. Herr Schültke nickt. Ich kann diesem Projekt nur raten, schleunigst mal bei einer Servicegesellschaft anzutreten.“ Die „Ratten“ auf dem Weg ins Zentrum.

Foto-Ausstellung „Ratten – die freilebenden Menschen werden immer mehr“: bis 27. Mai im Scheunenviertel, August-/Ecke Tucholskystraße 18 bis 22 Uhr.

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