: Nichts ist so schwierig wie Stillsitzen
■ Immer mehr Kinder leiden an Nervosität und Streß / In derzeit sieben Kursen gegen Schulstreß lernen sie, sich zu entspannen und Vertrauen zu sich und anderen aufzubauen / Weitere Angebote...
Berlin. Eben ist der neunjährige Olaf (Name geändert) mit sechs anderen Kindern und einem riesigen Gummiball durch den Raum getobt, bis ihm die blonden Haare verschwitzt in die Stirn hingen. Jetzt liegt er mit geschlossenen Augen auf dem Boden.
Ein großer Kristall liegt zu seinen Füßen. Er verströmt Wärme in seine Füße und in den Bauch. Mit einem Mal wird Olaf ganz leicht. Ein Windstoß reicht aus, um ihn hochzuheben, weit über das Reinickendorfer Gesundheitsamt hinaus. Erst sieht er noch die Dächer der Stadt unter sich, dann geht es immer schneller, bis er auf seiner Trauminsel landet. An diesem Ort hilft das Wünschen. Als er sich überlegt, ob er gern einen Eisstand oder einen Fußballplatz hätte, stößt ihn etwas von der Seite an. Sein Krafttier hat auf ihn gewartet, ein Tiger mit Säbelzähnen und schwarzen Streifen auf dem Rücken. Auf dem Rückflug kann er ihn mitnehmen. Sanft schwebt er wieder im Gruppenraum ein.
Als er die Augen öffnet, sieht er nur die anderen Kinder und die Trainer von der Kinderakademie. Aber er weiß, sein Krafttier wird jederzeit kommen und ihm beistehen. „Spätestens am Donnerstag werde ich es rufen, da schreiben wir eine Deutscharbeit“, sagt er, als er nachher seine Sachen packt. Deutsch sei zwar nicht so schlimm wie Mathe, weil man nicht rechnen müsse. Trotzdem bekomme er vor den Arbeiten solche Angst, daß ihm gar nichts mehr einfalle.
„Mit den Phantasiereisen wollen wir die Imaginationskraft der Kinder stärken“, sagt Achim Wannicke, Leiter der Kinderakademie „Sterntaler“. „Wir bieten ihnen Bilder an, in die sie sich einklinken können.“ Kinder hätten oft keine Orte für sich, keinen Bereich, in den sie sich vor den übermächtigen Anforderungen der Außenwelt flüchten und auftanken könnten. Die Phantasiereisen ließen Kinder eigene Bilderwelten entdecken. Nach etwas Übung können sie sogar in der vollgestopften U-Bahn auf die Sicht nach innen umschalten, ihr Krafttier rufen oder den Kraftort aufsuchen.
Phantasiereisen, Spinnereien und Träume sind Teil der Kurse der Kinderakademie Sterntaler. Sie sollen Kindern helfen, dem schulisch, familiär und gesellschaftlich bedingten Streß etwas entgegenzusetzen. Denn Olaf ist kein Einzelfall, wie sich auf dem Vorbereitungs-Elternabend herausstellt. Mareike kommt jeden Tag zappelig und nervös aus der Schule, weil sie die Schlägereien auf dem Hof nicht erträgt. Die achtjährige Sabine rastet aus, wenn ihre Mutter länger als eine halbe Stunde mit ihr Schulaufgaben machen will. Jeannettes schulische Leistungen gingen in den Keller, als sich ihre Eltern trennten.
„Auch als Eltern machen wir viel kaputt“, sagt Haralds Vater. Wenn er gerädert nach Hause komme und mit seinem Sohn Mathe übe, gingen ihm mit der Geduld auch die Argumente aus. „Dann sagt man Dinge, die man normalerweise nie sagen würde.“
Fast ein Drittel der zwischen Sechs- bis Vierzehnjährigen zeigt regelmäßig Verhaltensauffälligkeiten, ist unruhig, nervös und aggressiv. Immer mehr werden krank daran, leiden unter Kopf- und Rückenschmerzen, Schwindelgefühlen, Bluthochdruck oder Kreislaufbeschwerden. Ein guter Teil der chronischen Krankheiten wie Asthma und Neurodermitis sind nach neuesten Untersuchungen streßbedingt. Auch die Selbstmordrate steigt.
Die Kinderakademie will die vielfach gekränkten Kinder dort abholen, wo sie sind. „Uns geht es nicht darum, das Kind wieder funktionieren zu lassen, es soll zunächst in seiner Selbstwahrnehmung und in seinem Selbstwertgefühl gestärkt werden“, sagt Wannicke. Viel Körperarbeit hilft ihnen, sich und ihren Körper kennen- und aushalten zu lernen.
Das Bündnis mit dem Kind steht im Vordergrund. Die Kinder dürfen im Kurs Geheimnisse haben, sie dürfen sich und ihre Befindlichkeiten den TrainerInnen zumuten. „Niemand verläßt den Raum“, ist das einzige eherne Gebot dabei. Im Raum dürfen sie jederzeit sagen, „das find' ich doof, da mach' ich nicht mit“. Störungen haben sogar Vorrang, denn sie signalisieren Kränkungspunkte. Über die kann man reden, „und vielleicht fällt uns dazu auch eine Übung ein“, so Wannicke.
Zur Zeit laufen sieben Kurse gegen Schulstreß in Berlin, weitere zehn sind geplant. „Unsere Stadträtin Wanjura will mit der Bereitstellung der Räume und der Infrastruktur einen Beitrag zur Gesundheitsförderung leisten“, sagt Ute Ulrich, die das Reinickendorfer Gesundheitsbüro leitet. Die Kursbeiträge übernimmt für ihre Mitglieder die AOK, andere Kassen zahlen die Hälfte der knapp 300 Mark. „So ein Konzept gibt es sonst nirgends in der BRD, und wir unterstützen es als Modellversuch“, sagt Frank Braungart von der Pressestelle der AOK Berlin.
Tina jedenfalls kann sich an ihre Reise auf einen fremden Planeten noch gut erinnern. Dort konnte nur das sein, was sie gerade wollte. „Wenn ich traurig bin, fahre ich immer wieder hin und besuche meinen Cousin. Der wartet dort und begleitet mich“, sagt die Neunjährige. Manchmal versucht sie es auch mit den Sprüchen, die sie gelernt hat wie: „Ruhig und still, es passiert, was ich will.“ Ihr Kurs fand letztes Jahr an der Peter Petersen Grundschule statt. Tina hat in der Schule keine Schwierigkeiten mehr, das Diktat heute war wieder gut.
Die Peter Petersen Grundschule in Neukölln arbeitet auch im Schulalltag gegen Schulstreß. Zweimal in der Woche findet ein Yogakurs statt. Zwölf LehrerInnen haben in einem Kurs Autogenes Training gelernt und machen vor Klassenarbeiten und nach den Pausen Entspannungsübungen mit den Schülern.
Für Unruhe, Egozentrismus, Aggressivität und Feindseligkeit anderen gegenüber will Rektorin Ruth Weber jedoch nicht die Schule allein verantwortlich machen. „Natürlich gibt es strukturellen Streß an der Schule. Sie muß als Institution die Kinder auf die Anforderungen der Gesellschaft vorbereiten.“ Das sei nie anders gewesen. Heute jedoch kämen für die Kinder vielfältige Streßsituationen hinzu wie Scheidungen, Schlägereien, Arbeitslosigkeit, Selbstmord oder Drogen in der Familie und die Gewalt auf Straße und Schulhof.
Für vieles sei auch der übermäßige Fernsehkonsum eine Wurzel. Wenn Jugendliche die mittlere Reife erreichen, haben sie durchschnittlich 15.000 Stunden in der Schule und 18.000 vor dem Fernseher gesessen. Die Reizüberflutung habe nicht nur zur Folge, daß sich die Kinder nicht länger als zehn Minuten konzentrieren können. „Sie haben auch weder ein gesichertes Wissen noch ein gesichertes Nicht-Wissen.“ Wenn man etwa ein Kind frage, wer Adenauer sei, sage es nicht „ich weiß“ oder „ich weiß nicht“, sondern es böte verschiedene Möglichkeiten an: „Könnte es sein, daß es ein Bürgermeister oder ein Sportler ist?“
Auch bewirken die Reize ständige Adrenalinstöße. Anstatt wegzulaufen, wofür dieses Hormon eigentlich vorgesehen ist, bleiben die Kinder sitzen und werden zappelig. Die Direktorin setzt daher weniger auf Rechtschreibübungen als auf Bewegung. Die bekommen sie in den Yogakursen von Margot Nier. Nachdem sie sich zu Beginn Fußsohlen, Knöchel, Beine und Bauch massiert haben, dürfen sie als Windmühle mit den Armen wedeln, als Dreieck erst Kopf, dann Arme, Beine und Füße drehen und durch die Brücke kriechen, die ein anderes Kind bildet. Dann wieder liegen sie ruhig, die Hände über dem Herzen gefaltet. „Yoga muß für Kinder anders aussehen als für Erwachsene“, sagt die Lehrerin. Langsame Dehnübungen wechseln ab mit solchen, wo die Kinder aufdrehen können. Da die Übungen allein zu langweilig sind, macht sie sie zu Musik wie „Wir sind aus weichem Gummi“. Auch hier werden die Kinder auf die Reise genommen: Auf dem Rücken liegend, werden sie an einen langen weißen Strand entführt, an dem sie sich im sonnenwarmen Sand ausstrecken dürfen. Tief sollen sie den Duft des Meeres in sich aufnehmen. Wieder in der Gymnastikhalle angekommen, strahlt Julia: „Ich hab' Delphine gesehen, die sind hin und her gesprungen, und einer hat mich mitgenommen.“ Corinna Raupach
Die Kinderakademie Sterntaler ist unter Tel. 406 17 17 zu erreichen.
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