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„Dänemark hat seine Unschuld verloren“

Nach dem Referendum kam es zu den blutigsten Straßenschlachten der Landesgeschichte / Polizei schoß scharf gegen pflastersteinbewehrte DemonstrantInnen / Dutzende Schwerverletzte  ■ Von Dorothea Hahn

Berlin (taz) – 350 Tage lang hatte das dänische Establishment vor dem Ergebnis der zweiten Maastricht-Volksabstimmung gezittert. Am Dienstag abend, wenige Minuten nach 20 Uhr kam der Moment, der von allen für den Schlußpunkt des längsten Wahlkampfes und der stärksten politischen Polarisierung der dänischen Geschichte gehalten wurde. Das Resultat war entschieden positiver als von der Regierung erwartet: Schon die Wahlbeteiligung lag mit 86.6 Prozent für dänische Verhältnisse ungewöhnlich hoch. Und mit 56,8 Prozent der Stimmen dafür und nur noch 43,2 Prozent dagegen waren die Maastrichter Verträge – samt den in Edinburgh ausgehandelten Sonderklauseln – eindeutig angenommen.

Doch die Freude währte nur kurz. Noch während der sozialdemokratische Premierminister Poul Nyrup Rasmussen und die Chefs der übrigen elf EG-Länder sich erleichtert dazu gratulierten, daß die DänInnen nach ihrem „Nein“ vom 2. Juni 1992 doch noch nach „Europa zurückgekehrt“ waren, bahnte sich in dem Stadtteil Nörrebro – dem Kreuzberg Kopenhagens, mit zahlreichen kleinen Cafés und einem landesweit bekannten von der Stadt finanzierten Jugendzentrum – die blutigste Straßenschlacht der Landesgeschichte an.

Rund 1.000 Jugendliche hatten sich auf der Hauptverkehrsstraße Nörrebrogade vor großen Leinwänden versammelt, auf denen die Stimmenauszählung direkt übertragen wurde. Eine englische Rockband spielte. Es sollte ein Fest für den dänischen Abschied aus EG-Europa, von der „Fremdbestimmung aus Brüssel“ und von der „Entdemokratisierung durch die EG“ werden. Die meisten TeilnehmerInnen kamen aus der autonomen Szene, die in Kopenhagen weiterhin „Hausbesetzer“ genannt werden, obwohl es in der ganzen Stadt keine besetzten Häuser mehr gibt. Statt Häuserkampf haben sie sich längst den „Kampf gegen Maastricht“ zum Ziel gemacht. Vor dem Referendum hatten sie in der breit zusammengesetzten „Juni-Bewegung“ für ein „Nein“ beim Referendum Kampagne gemacht. An diesem Abend wollten sich die Jugendlichen „mit dem Ergegnis des Referendums auseinandersetzen“, wie ein Teilnehmer am Morgen danach berichtete.

Die „Auseinandersetzung“ begann, als die ersten Hochrechnungen über die Leinwände flimmerten. „Die Politiker haben uns verraten. Sie haben unser „Nein“ vom vergangenen Juni nicht respektiert“, rief ein junger Mann in der Menschenmenge. Ein Transparent „EG-freie-Zone“ tauchte auf. Eine blaue Europafahne brannte. Barrikaden wurden gebaut und in den umliegenden Geschäften und Banken zersplitterten Schaufenster.

Was im einzelnen geschah, bedarf einer Rekonstruktion, die nicht einfach werden wird. Fest steht, daß es zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen den DemonstrantInnen und der Polizei kam. Augenzeugen berichten von einer „unglaublichen Aggressivität“, mit der DemonstrantInnen auf die Polizisten losgegangen seien. Ihre Waffen waren Pflastersteine und Eisenstangen. Selbst auf bereits bewußtlos am Boden liegende Polizisten sollen weiter Schläge und Steine niedergeprasselt sein.

Die Polizei antwortete – so der bisherige Informationsstand – zunächst mit Tränengas, ging jedoch bald zu Warnschüssen in die Luft über. Als die nicht das gewünschte Ergebnis brachten, begannen die Polizisten, auf die Arme und Beine von Demonstranten zu zielen. Rund 100 Schuß scharfe Munition sollen gefallen sein.

Die Schlacht tobte bis in den frühen Mittwochmorgen. Elf Demonstranten liegen seither mit Schußverletzungen im Kopenhagener Reichskrankenhaus. Mindestens drei von ihnen sollen mit Bauchschüssen schwer verletzt sein. Auf der anderen Seite wurden 24 durch Pflastersteine verletzte Polizisten gezählt, die zum Teil im Krankenhaus behandelt werden mußten. Über die Schwere ihrer Verletzungen liegen widersprüchliche Informationen vor. 24 Personen wurden festgenommen, darunter ein Schwede und andere nicht näher bezeichnete Ausländer.

Am Tag nach dem ersten Schußwaffeneinsatz dänischer Polizisten gegen Demonstranten sagte Polizeisprecher Willy Eliasen, die Staßenschlacht sei „das Schlimmste, was wir je in Kopenhagen erlebt haben“. Als „Katastrophe“ bezeichnete er den Umstand, daß sich die Demonstration in unmittelbarer Nähe einer Großbaustelle ereignet habe, von der sechs bis acht Tonnen Pflastersteine entfernt worden seien.

Der dänische Ministerpräsident Poul Nyrup Rasmussen verteidigte das Vorgehen seiner Polizei. In der Nacht sei es „um Leben oder Tod“ gegangen. Die einzige Möglichkeit, Leben zu retten, habe deshalb im Einsatz der Schußwaffe gelegen. Die Öffentlichkeit reagierte erschrocken über die „völlig undänische Gewalt“. „Dänemark hat seine Unschuld verloren“, titelte die große Tageszeitung Berlinske Tidende

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