: Wir hatten noch nie so friedliche Kinder
■ Der Hamburger Erziehungswissenschaftler, Professor Peter Struck, verteidigt die junge Generation / Regressionen sind schlimmer als Aggressionen
verteidigt die junge Generation / Regressionen sind schlimmer als Aggressionen
taz : Das Thema Gewalt an Schulen ist tagtäglich in den Medien. Wird das überdramatisiert?
Struck: Ja und nein. Gewalt unter Kindern und an Schulen muß man dramatisieren, damit sich etwas ändert. Es ist gut, wenn jetzt die intensive Diskussion genutzt wird, um die Situation zu verbessern und sozialpädagogische Zuwendungen in Schulen zu erhöhen. Aber sie ist insofern falsch, weil sie nicht differenziert. Kinder und Jugendliche reagieren sehr unterschiedlich auf erlebte Gewalt. Die meisten sind nicht gewalttätig. Wir haben noch nie so viele Schüler gehabt, die so sozial und friedensliebend sind. Ich stelle immer wieder fest, daß Kinder und Jugendliche sehr viel höhere Werte haben. Zum Beispiel in Bezug auf Umwelt oder auch Gerechtigkeit. Sie sind auch eher bereit, sich für diese Werte einzusetzen als korrupte Erwachsene.
Medien wollen steigende Mißstände gut verkaufen
Was nicht bedeutet, daß es nicht bei einem kleinen Teil von Kindern und Jugendlichen, vielleicht auch in bestimmten Regionen Hamburgs, in bestimmten sozialen Situationen, eine Zunahme von Gewalt gibt. Überall, wo die Gesellschaft sich nachteilig entwickelt hat.
taz : Es gibt ja die Hamburger Studie, die sagt, daß Gewalt an jeder 7. Schule ein großes Problem ist.
Struck: Da sieht man ja schon, wie falsch das ist. Denn wenn es nur jede 7. Schule ist, dann wäre das ja ganz traumhaft. In Wirklichkeit hat jede Schule Gewaltprobleme. Diese Studie ist schon deshalb gar nichts wert, weil man die Schulleiter befragt hat. Und welcher Schulleiter gibt schon kurz vor der Anmelderunde zu, daß er Gewaltprobleme an seiner Schule hat? Dann wurde überhaupt nur jede dritte Schule befragt. Und irgendwann kommt die Studie zu dem Schluß: Immer jüngere Kinder werden tätig, die Formen der Gewalt werden immer dramatischer. Man begnügt sich nicht mehr damit, daß das Opfer am Boden liegt, sondern tritt dann noch mal mit dem Springerstiefel ins Gesicht. Und das dritte, was die Studie sagt, daß die Zahlen an sich steigen.
taz : Und das stimmt nicht?
Struck: Da bin ich eben der Meinung, das es relativ unklar ist, wenn es um Zahlen geht. Eins hat wohl zugenommen, und das ist die Wahrnehmung der Gewalt. Ich glaube, daß vor 20 Jahren — und noch schlimmer war das vor 40 Jahren — Gewalt ebenso vorhanden war wie heute. Völlig unabhängig von Zahlen. Nur daß es damals keine Bereitschaft gab, sie wahrzunehmen. Heute haben auch die Medien ganz offensichtlich ein Interesse daran, steigende Mißstände gut zu verkaufen. Gut wäre ja, wenn sich dadurch etwas verbessern würde. Vor 20 Jahren hatten wir in Hamburg eine Gewaltstudie für den Aufsichtsbezirk Altona-Elbgemeinden von 1974. Wenn man die heute liest, findet man genau die Sachen wieder, die heute beklagt werden. Da steht also auch: „Verrohung der Verhaltensweisen“, da wird auch gesprochen vom „Werfen von Knallkörpern“ auf Mitschüler, von „Vergreifen größerer Schüler an kleineren“, von Anspucken, von Kleider zerreißen, von Schlägereien mit Eisenstangen, Knüppeln, Schlagringen. Von „Fußtritten“, „gegenseitigem Bestehlen“, „Mitführen von Messern“, „Erpressen einzelner Mitschüler“.
taz: Also stimmt es nicht, daß die Form der Gewalt zugenommen hat?
Struck: Sicher, es gibt andere Waffen und manche sind erschreckt, daß heute schon viel mehr jüngere Kinder als früher auch extreme Formen von Gewalt anwenden. Aber insgesamt ist das Phänomen überhaupt nicht neu. Dann hängt die Frage auch mit dem Gewaltbegriff zusammen. Viele verstehen unter Gewalt nur, wenn man einen anderen schlägt oder niederprügelt. In Wirklichkeit gibt es ja drei Formen von Gewalt, wobei die dritte vollkommen vernachlässigt wird. Also, die erste Form ist Gewalt gegen Sachen, Vandalismus an Schulgebäuden zum Beispiel, 200 Millionen Mark Schaden im letzten Jahr. Ich finde immer, daß das relativ wenig ist. Dann Gewalt gegen Menschen, das versteht man vor allem unter Gewalt. Das ist auch sehr schlimm. Aber es gibt noch eine schlimmere Form, die bisher immer vernachlässigt wird: Das ist die Gewalt gegen sich selbst. Die hat ganz offensichtlich zugenommen. Es gibt immer mehr Schüler, die extreme Hautprobleme haben: Neurodermitis, Allergien, Asthma, Ekzeme und so etwas. Eine Form von Sich-nicht- wohlfühlen in der eignen Haut und Aggressionen gegen sich selbst richten. Dazu gehören aber auch
Tabletten-, Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum, Todessehnsucht bis hin zum Suizid. Aber auch Magersucht, Bulemie, sind eine Form von Gewalt, die Jugendliche gegen sich selbst richten. Dabei wird von ihnen ja noch die Tabuschwelle akzeptiert, ihre Aggressionen nicht an anderen auszulassen. Dabei sind Aggressionen wichtig. Das Problem ist, wie man sie kanalisiert und lernt, mit ihnen richtig umzugehen. Und das muß man Kindern eben auch deutlich machen. Sei es, daß sie mit einem Boxhandschuh auf 'nen Punching-Ball schlagen, oder
über Rollenspiele und Schreien ihre Aggressionen rauslassen.
taz : Kann es überhaupt eine gewaltfreie Schule geben?
Struck: Die Schulen sind ja selbst gewalttätig. Das fängt beim System an. Ein System, das so stark selektiert, Schüler scheitern läßt, Rückläufer produziert, mit fünfen arbeitet und Schüler ständig bestraft.
taz : Das hat sich doch auch verändert. Viele Schulen geben Berichtszeugnisse statt Noten.
Struck: Sehen Sie, jetzt sind wir an dem Punkt: Man kann sich genau angucken, an welchen Schulformen man ein Höchstmaß an Gewalt hat und wo es schulische Nischen mit wenig Gewalt gibt. Überall, wo sie offenen Unterricht in der Grundschule machen, wo sie Integrationsklassen — also gemeinsames Lernen von Behinderten und nicht Behinderten haben — wo sie mit Projektmethode in der Sekundarstufe I arbeiten, das Konzept volle Halbtagsschule, pädagogischer Mittagstisch, oder Ganztagsschule haben, haben sie immer deutlich weniger Gewalt. Überall, wo die Klassenlehrerpädagogik eine größere Rolle spielt als das Fachlehrersystem, haben sie weniger Gewalt. Überall dort, wo Selektion, Auslese und die Produktion von Verlierern eine große Rolle spielt — nämlich bei der massiven Dreigliedrigkeit, Hauptschule, Realschule, Gymnasium — wo früh mit Noten gearbeitet wird und eben nicht mit Berichtszeugnissen, da haben sie immer auch mehr Gewalt.
taz : Das widerspricht der Hamburger Studie. Dort stand als Fazit, daß sich Gewalt wie ein Flickenteppich über die Stadt ausbreitet.
Struck: Das kann man erklären. Es gibt ja mehrere Faktoren, die zu Gewalt an der Schule führen. Es
1gibt Schulen, da wird die Gewalt von außen mit in die Schule reingebracht — wenn zum Beispiel die ganzen Stadtteil- oder die Familienbedingungen katastrophal sind. Dann gibt es aber auch Gewalt, die durch die Schule selbst organisiert wird. Durch viel zu große Schulen, mit viel zu viel Kursunterricht, wo für das Kind nicht mehr alles überschaubar ist. Sie haben nämlich gar nicht in den Hauptschulen die meisten Gewaltprobleme, obwohl man das denken würde, weil diese Schule mit dem Klassenlehrerprinzip arbeitet und weil die Hauptschulen klein und überschaubar sind. Was aber überhaupt nicht für die Hauptschulen spricht.
taz : Wie erklären Sie es sich, daß die Diskussion jetzt hochkommt?
Struck: Das hat mehrere Gründe. Erstens mal hat man in der Gesellschaft vieles anders organisiert. So daß zum Beispiel alte Leute, die in der U-Bahn fahren, das Gefühl haben, sie sind nicht mehr beschützt, weil es keine Schaffner mehr gibt. Zum anderen wurde in unserer Gesellschaft ein Mehr an oben und unten produziert, so daß die Zahl von Verlierern zugenommen hat, die sich teilweise mit Aggressionen wehren. Damit hat es was zu tun, daß Spielregeln des Zusammenlebens nicht mehr eingehalten werden. Es ist ja auch interessant, daß die Linken, die Grünen zum Beispiel, heute sagen: Wir haben mit der 68er Generation, mit dem Aufräumen von Normen und Werten überwiegend Positives gebracht — das sehe ich auch so. Aber man hat damals einen Kunstfehler gemacht. Man hat vorübergehend gemeint, Kinder bräuchten keine.
Kinder brauchen Personen, die Werte vermitteln
Grenzerfahrungen, es wäre gut, wenn man sie nur wachsen ließe. Dabei hat man vergessen, daß 13-, 14jährige vieles auch nur tun, um Grenzen zu suchen. Und wenn sie nicht auf Grenzen stoßen, dann gehen sie noch weiter, denn nur so können sie sich Normen und Werte aufbauen. Und gleichzeitig hat man bei der Vermischung von Autoritativem und Autorität geglaubt, daß Autorität was schlechtes ist. Das ist immer falsch gewesen. Autorität ist was Positives, weil es das Gegenüber freiwillig anerkennt. Im Unterschied zum Autoritären, was man ablehnen muß, weil es nicht nach der Zustimmung des Gegenübers fragt. Kinder brauchen Erwachsene, an denen sie sich orientieren können, Menschen, die ihnen Werte vermitteln. Viele Eltern, die heute Kinder haben, sind in einer Zeit aufgewachsen, wo Hilflosigkeit und Unsicherheit im Umgang mit Grenzsetzungen aufkam. Aus lauter Angst, etwas falsch zu machen, machen sie lieber gar nichts. Das betrifft auch die offizielle Jugendpolitik. Das kann man am Beispiel der Crash-Kid-Diskussion nachvollziehen. Heute sieht man die Früchte einer solchen Erziehung, die nicht wagt, Kindern Grenzen zu zeigen. Was überhaupt nicht einsperren bedeutet. Aber wenn man Kinder immer wieder alleine läßt, sie umtopft in immer wieder neue Einrichtungen, ihnen immer wieder neue Bezugspersonen gibt, dann lernen sie irgendwann, daß es sich nicht mehr lohnt, sich an eine Bezugsperson zu binden.
taz : Sind Sie für geschlossene Heimunterbringung?
Struck: Nein, überhaupt nicht. Geschlossene Heime und Jugendstraf-
anstalten sind untaugliche Mittel, um Kinder zu erziehen. Kinder müssen eben nicht angebunden werden, sie brauchen Bindungen.
taz : Was kann da die Hamburger Jugendpolitik anders machen?
Struck: Schlecht war zum Beispiel, Kinder in Heimen und Jugendwohnungen mit Erziehern im Schichtdienst zu verwalten. Wenn man das gewerkschaftlich sieht, kann man auch verstehen, daß Erzieher einen Acht-Stunden-Tag haben wollen. Da liegt das Dilemma. Weil das nicht dem Bedürfnis des Kindes entspricht. Alle diese Kinder haben das Bedürfnis nach Familie oder Familienersatz. Und der muß eben ähnlich organisiert sein wie die Familie. Das Menschen rund um die Uhr mit ihnen zusammenleben.
taz : Sie können Sozialarbeiter nicht zum 24-Stunden-Tag zwingen.
Struck: Aus der Sicht des Kindes, muß man mit ihm rund um die Uhr zusammenleben. Arbeitsrechtlich geht sowas nicht. Alternativen wären, Kinder in vorhandene Familien zu geben oder in Einrichtungen, die familienähnlich leben.
taz : Sie haben kürzlich bei einem Fernsehauftritt gesagt, die heutige Jugend wäre nicht schlechter als die Generation ihrer Eltern. Warum ist es notwendig, die Jugend zu verteidigen?
Struck: Mittlerweile habe ich schon viele Jugendliche erlebt, die darunter leiden, daß sie immer pauschal als gewalttätig mit einbezogen werden. Das hat sogar eine Sogwirkung. Daß manch junger Mensch sehr verunsichert ist in seinen Normen und glaubt, er könne besser dastehen, wenn er gewalttätig ist, weil man es im Grunde ja auch von ihm erwartet. Interviewfragen von Kaija Kutter
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen