Bunsenbrenner: Brüsseler Spitzen
■ Das Ende des Patientenschutzes
Mit den Empfehlungen des Ausschusses für „Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz“ des Europäischen Parlaments würde künftig für pharmazeutische Unternehmer ein Grundrecht der ungehemmten Medikamentenvermarktung eingeführt, falls sich die Arzneimittelüberwachungsbehörden für Bedenken mehr als 90 Tage Zeit lassen. Treten Verzögerungen ein, stehen Pharmaherstellern überdies Entschädigungen zu.
Um Bedenken und mißliebige Kritik am sogenannten Arzneimittelfortschritt von vornherein zu zersteuen, soll in einem zentralisierten Europa Behördenhandeln die Meßlatte des für Wissenschaft und Presse Erlaubten bestimmen: Unter Androhung von Sanktionen sollen künftig Verdachtsfälle unerwünschter Wirkungen von Arzneimitteln nicht mehr berichtet werden, die „unnötige Beunruhigung“ auslösen. Das Maß des Nötigen werden Behörden bestimmen – etwa das Berliner Bundesgesundheitsamt, das den krebserzeugenden Stoff Formaldehyd vom Verdacht schädlicher Wirkungen noch freisprach, als das Bundesumweltamt eine Gefahrenlage ortete. Maastricht wäre hier das Waterloo für die Wissenschaftsfreiheit.
Wird künftig die Diskussion möglicher schädlicher Wirkungen eines Medikamentes von Entschädigungsforderungen betroffener pharmazeutischer Unternehmer und staatlicher Genehmigungen abhängen?
Die frühzeitige Warnung der Bevölkerung vor möglichen Arzneigefahren wird verboten. Als wir 1983 im arznei-telegramm die Verbreitung der Aids-Seuche durch Gerinnungspräparate für Bluter diskutierten, ahnten wir nicht, daß zehn Jahre später öffentliche Warnungen vor HIV- kontaminierten Blutprodukten zu einem Verbotsgegenstand werden könnten. Geben etwa 2.000 HIV-infizierte Bluter als Opfer deutscher Behördenuntätigkeit dem Bundesgesundheitsamt das Recht auf ein Informationsmonopol?
Solche Art behördlich administrierter Friedhofsruhe auf dem europäischen Arzneimittelmarkt wäre das Ende des Patienten- und Verbraucherschutzes. Ulrich M. Moebius
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