: Kredite als Opium des Staates
Das Grundgesetz beschränkt die Staatsverschuldung nicht wirksam / Nur der Maastrichter Vertrag bildet heute eine Schuldenbremse ■ Von Christian Rath
Zwölf Nullen stehen nach der eins: an Zahlen solcher Größenordnung werden wir uns gewöhnen müssen, wenn wir künftig über die Verschuldung der Bundesrepublik reden. Denn die Zahlen steigen fulminant: Von 1990 bis 1995 erhöhen sich die dem Bund zuzurechnenden Schulden auf rund 1,3 Billionen Mark. Weitaus bescheidener dagegen die Steuereinnahmen des Staates. Die neuste Schätzung sagt für das Jahr 1995 eine Summe von 830 Milliarden Mark voraus. Das sind 59 Milliarden weniger, als sich der Finanzminister noch letztes Jahr erhofft hat.
Die Schere zwischen Einnahmen und Schulddiensten öffnet sich immer weiter. Der Bund hat nicht nur für die Kreditaufnahme des Bundeshaushalts geradezustehen, sondern auch für die Verbindlichkeiten sogenannter „Schattenhaushalte“. Unter diesen finden sich auch reine Schuldentöpfe (siehe Kasten).
Wer auch immer nach den Bundestagswahlen Ende 1994 die Regierung stellen mag: im Haushalt 1995 müssen knapp 100 Milliarden Mark für Zinsen reserviert werden. Das macht die Spielräume auch für eine soziale und ökologische Politik zunehmend enger; es sei denn, man nimmt noch mehr Darlehen auf. Deshalb wird die Kreditfinanzierung auch als „Opium des Staatshaushalts“ bezeichnet.
Selbst die angebliche „Konsolidierungspolitik“ der konservativ- liberalen Koalition in den achtziger Jahren brachte hier keine Wende: Zwischen 1982 und 1990 stieg der Schuldenstand des Bundeshaushalts von 308 Milliarden auf 542 Milliarden Mark. Das heutige Schuldengebirge setzt sich damit aus drei aufeinandergeschichteten Sockeln zusammen: einer sozial-liberalen, einer konservativ-liberalen und einer realsozialistischen „Erblast“.
Wo aber ist die Grenze des Schuldenwahns? Schreibt unsere manchmal recht perfektionistische Verfassung nicht etwas mehr Rücksicht auf künftige Generationen oder zumindest auf künftige Parlamente vor? Immerhin besteht ja auch die Gefahr, daß sich eine Parlamentsmehrheit mit kreditfinanzierten Wohltätigkeiten Wählerstimmen „erkauft“.
Die Finanzbestimmungen des Grundgesetzes wurden 1969 von der Großen Koalition aus CDU/ CSU und SPD neu gefaßt. Sie lassen pro Jahr eine „Normalverschuldung“ in Höhe der Investitionen des Bundes zu (Art. 115 GG). Die dahinterstehende Überlegung: Da die Investitionen auch künftigen Generationen nutzen, ist es in Ordnung, wenn auch diese sich an der Finanzierung beteiligen müssen. Darüber hinaus enthält der Verfassungsartikel eine Ausnahmebestimmung für Konjunkturstörungen: In solchen Krisensituationen ist die Neuaufnahme von Krediten nicht begrenzt. Damit hat die Wirtschaftstheorie des Keynesianismus, wonach der Staat in Krisen seine Ausgaben „antizyklisch“ steigern soll, praktisch Verfassungsrang erhalten.
Ob eine Krisensituation vorliegt, entscheidet der Bundestag. Das Bundesverfassungsgericht will sich in dieser Frage zurückhalten, so ein Urteil der Karlsruher Richter aus dem Jahre 1989 (der Entscheidung lag eine Klage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen den sozial-liberalen Haushalt 1981 zugrunde). Nach den jüngst bekanntgewordenen Zahlen des Bundesfinanzministeriums wird man für den Haushalt 1993 auf diese Ausnahmebestimmung zurückgreifen müssen. Einer Rekordneuverschuldung von bis zu 70 Milliarden Mark stehen nur rund 67 Milliarden Mark investive Ausgaben gegenüber.
Auch eine Begrenzung der Gesamtschuldensumme läßt sich dem Grundgesetz nicht griffig entnehmen. Das wissenschaftliche Institut des Bunds der Steuerzahler hat daher eine Verfassungsänderung gefordert: Im Grundgesetz soll ein prinzipielles Verbot der Schuldenaufnahme eingefügt werden. Doch finden derartig „fundamentalistische“ Positionen unter den heutigen krisenhaften Rahmenbedingungen nur wenig Gehör.
Wichtigste Richtschnur für die Finanzpolitiker ist inzwischen der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union. Im Interesse eines stabilen Ecu sollen an der vorgesehenen Währungsunion nur die Staaten teilnehmen dürfen, deren Volkswirtschaft eine Handvoll strenger Anforderungen an Inflation, Zinshöhe und Wechselkursstabilität erfüllen. Zum Thema „Verschuldung“ stellt Maastricht zwei Hürden auf:
– die jährliche Neuverschuldung darf 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts nicht übersteigen.
– der Gesamtschuldenstand der öffentlichen Hand (Bund, Länder und Gemeinden sowie einige Sondervermögen) darf 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts nicht übersteigen.
Ob das erste Kriterium in den maßgeblichen Jahren 1996 bis 1998 erfüllt sein wird, weiß man heute natürlich noch nicht. Wäre 1993 das entscheidende Datum, sähe es allerdings düster aus für die Bundesrepublik. Die Neuverschuldung der öffentlichen Hand ist in diesem Jahr nämlich mit 6 bis 7 Prozent um das Doppelte zu hoch.
Kritisch wird die Lage mit Sicherheit beim zweiten Kriterium, der Gesamtschuldenhöhe. „Wir dümpeln gerade um die 60 Prozent herum“, gibt ein Sprecher des Finanzministeriums zu. Auf die Zahl hinter dem Komma wird es zwar nicht ankommen, denn der Maastrichter Vertrag ist an dieser Stelle großzügig: er läßt auch Ausnahmen zu, wenn ein Land „in der Nähe“ des Richtwerts von 60 Prozent bleibt. In der Waigel-Behörde will man jedoch nicht darauf angewiesen sein, daß die EG-Partner „noch mal ein Auge zudrücken“. Die Vorgabe des Finanzministeriums lautet: „Wir wollen die Maastricht-Kriterien genauso eindeutig erfüllen, wie wir das von den anderen Teilnehmern der Währungsunion erwarten.“
Daß es für die Bundesrepublik und ihren Haushalt überhaupt so knapp werden wird, ist auch eine Folge des Solidarpakts. Beim großen Finanzkompromiß zwischen Bund und Ländern wurden nämlich nicht nur neue Kreditaufnahmen vereinbart, sondern auch alte Schulden umgruppiert und so teilweise erst „EG-statistikfähig“ gemacht. Die Schulden der Treuhandanstalt etwa galten bislang nicht als öffentliche Schulden im Sinne des Maastrichter Vertrags. Durch die Übernahme in den neuen Erblasttilgungsfonds werden sie ab 1. Januar 1995 mitgezählt. Das gleiche gilt für die Schulden von Bundesbahn und Reichsbahn. Ab 1994 werden sie in ein „Restsondervermögen Bahn“ eingebracht und müssen deshalb mitberechnet werden.
Mit dieser Bündelung der öffentlichen Schuldenlandschaft reagierte das Finanzministerium auf eine lange geäußerte Kritik der Opposition. Diese warf Finanzminister Waigel vor, sein Haushalt sei geschönt. Die Bildung einer Vielzahl von Schattenhaushalten führe zu Sorglosigkeit in der politischen Entscheidung, denn im Mittelpunkt des Interesses von Öffentlichkeit und Parlament stehe nur der eigentliche Bundeshaushalt. Bis Ende Mai sollen die Solidarpaktbeschlüsse im Rahmen des „Föderalen Konsolidierungsprogramms“ in Gesetzesform gegossen sein. Ab 1995 stehen zwar immer noch drei große Sonder-Schuldentöpfe neben den eigentlichen Bundesverbindlichkeiten, die Lage ist dann aber immerhin etwas übersichtlicher. Damit ist die SPD bereits zufrieden.
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