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Traurige Perle der Karibik

Die Wirtschaftskrise zwingt Kuba zur ideologischen Öffnung  ■ Aus Havanna Ralf Leonhard

Der fortschreitende Verfall ist erschreckend. Havanna, die Perle der Karibik, sicherlich eine der schönsten Städte des Kontinents, stirbt einen quälenden Tod. Da gibt es Balkons, deren Absturz nur durch eine Holzplanke verhindert wird, Bauten, von denen unablässig der Verputz rieselt, Fassaden, deren einstige Pracht nur mehr erahnt werden kann. Die aus der Jahrhundertwende stammenden Wohnhäuser des gehobenen Mittelstands sind dem aggressiven Klima der karibischen See nicht gewachsen. Und ihre Bewohner können sich selbst die primitivsten Reparaturarbeiten nicht leisten.

Nicht nur der Kontrast zu den Kolonialbauten, die von der UN- Kulturorganisation Unesco restauriert worden sind, macht den Niedergang so augenfällig. Heute ist in den Straßen des zentralen Vedado-Bezirks und in der Altstadt jedes Geschäftsleben erstorben. Selbst der Coppelia-Park, wo die Jugendlichen ehedem bis in die frühen Morgenstunden vor den Eisbuden Schlange standen, ist nachts geschlossen. Aus dem berühmten Coppelia-Eis ist eine wäßrige Substanz geworden, die den Kunden heute, mangels Tüten, auf ein Stück Papier oder in die hohle Hand geklatscht wird. Die Nullösung, die nackte Überlebenswirtschaft ist deprimierend.

Kubas Revolutionäre waren immer stolz darauf, ein Land ohne Bettler geschaffen zu haben. Und noch immer ist die Armut nicht vergleichbar mit jener in Peru, Guatemala oder dem karibischen Nachbarn Dominikanische Republik. Doch kann heute kein Tourist mehr die Altstadt durchqueren, ohne von Kindern um Kaugummi, Münzen oder Kugelschreiber angegangen zu werden. Und in den Abfalltonnen suchen zerlumpte Männer Essensreste.

Kubas Wirtschaft ist nach dem Zusammenbruch seiner wichtigsten Handelspartner um 40 Prozent geschrumpft. Die Importe mußten von sieben Milliarden Dollar im Jahr 1989 auf knapp über zwei Milliarden im Vorjahr gedrosselt werden. 1992 wurden nur sechs Millionen Tonnen Erdöl importiert, das ist weniger als halb soviel wie 1989, als das sowjetische Öl noch in günstigem Verhältnis gegen Zucker eingetauscht wurde. Zu allem Überfluß wurde Kuba Mitte März von einem verheerenden Unwetter heimgesucht, das Tausende Familien obdachlos machte und allein in der Zuckerindustrie Schäden von 100 Millionen Dollar hinterließ.

Den Bewohnern der Häuserzeile, die dem Malecon, der Uferstraße von Havanna, gegenüberliegt, sitzt der Schreck noch jetzt im Nacken. „Die USA, die Russen und jetzt auch noch den lieben Gott gegen uns, das ist wirklich zuviel“, stöhnt Catalina Mendez, deren Haus von der Flutwelle unter Wasser gesetzt wurde.

Als wären der Katastrophen noch nicht genug, tauchte zu Jahresbeginn eine mysteriöse Nervenkrankheit auf, die die Augen befällt und zur völligen Blindheit führen kann. Zuletzt soll dieses Leiden in den 20er Jahren die Karibikinsel Jamaika heimgesucht haben. Spekulationen der internationalen Presse, daß die Krankheit die Folge chronischer Unterernährung sein könnte, traten die kubanischen Mediziner bald mit der Erkenntnis entgegen, daß der Erreger ein Virus sei, der Organismen befalle, die durch übermäßigen Nikotin- und Alkoholkonsum in Kombination mit Vitamin-B-Mangel geschwächt sind. Nachdem ein vorbeugendes Präparat verteilt wurde, soll die Krankheit weitgehend unter Kontrolle sein.

Und dennoch, trotz aller Krisensymptome: Kubas Wirtschaft und Gesellschaftssystem erwecken nicht den Eindruck, als stünden sie vor dem Kollaps. Zwar reichen „die Nahrungsmittelquoten, die jeder Familie über die Rationierungskarten zustehen, für bestenfalls zwei Wochen“, wie Felix beteuert, ein junger Ingenieur, der in seiner Freizeit Ausländer anspricht, um zu einem Bier, einer Coca-Cola oder einer Tube Zahnpasta zu kommen. Doch es gibt den Schwarzmarkt, wo jeder zu horrenden Preisen zukaufen kann. Kostet das Pfund Reis offiziell 20 Centavos, wird es auf dem illegalen Markt für 15 Pesos gehandelt – das Fünfundsiebzigfache. Wenn das Essen ausgeht, ersteht Felix ein paar Strohhüte und fährt aufs Land.

Die Privatbauern müssen zwar den Großteil ihrer Produktion an den Staat verkaufen, doch den Rest dürfen sie für den Eigenkonsum behalten. Jeder weiß, daß ein Teil davon auf den Schwarzmarkt wandert. Für einen Hut, ein für die Feldarbeit unter der Tropensonne unentbehrliches Utensil, bekommt Felix fünf Pfund Reis. Obwohl das parallele Handelssystem, das zu einem Gutteil vom Diebstahl in den Staatsbetrieben lebt, enorme Einkommensverzerrungen schafft, verzichtet die Regierung auf systematische Repression. Die sozialen Kosten wären unabsehbar.

Dreißig Jahre Wirtschaftsembargo haben die Kubaner erfinderisch gemacht. Treibstoff und Ersatzteile sind knapp, also setzt man sich aufs Fahrrad oder verwertet schrottreife Fahrzeuge weiter. Der sechstürige Lada, der als Sammeltaxi in den Straßen von Havanna verkehrt, ist eine kubanische Kreation. Auch die ungarischen IKARUS-Busse mit Motor- oder Getriebeschaden enden nicht auf dem Autofriedhof: sie werden zu Anhängern oder, nach dem Vorbild der Londoner Doppeldeckerbusse, als zweiter Stock auf einen intakten Bus aufgeschweißt.

Nicht nur in der Stadt hat die Energiekrise die Suche nach neuen Wegen beschleunigt. Immer mehr Bergdörfer werden durch Kleinkraftwerke von der nationalen Energieversorgung unabhängig. Es ist kein Zufall, daß der erste westliche Entwicklungshelfer, der in Kuba eine Aufenthaltsgenehmigung bekam, ein Experte für Alternativenergien ist. Günter Koschwitz vom evangelischen Hilfswerk „Dienst in Übersee“ koordiniert als Mitarbeiter des Ökumenischen Rates von Kuba eine Serie von Projekten.

Das deutsche Entwicklungsministerium (BMZ) hat jeder zwischenstaatlichen Kooperation mit Kuba eine deutliche Absage erteilt und 1990 im Konstanzer Protokoll beschlossen, die ehemaligen DDR-Verträge nicht zu übernehmen. Das war sogar ohne offenen Vertragsbruch möglich, da der Kooperationsvertrag im Dezember 1990 endete. Selbst der Tausch von 20.000 Tonnen Trockenmilch gegen die gleiche Menge Futterhefe, der als humanitäre Hilfe auf wenig politischen Widerstand gestoßen wäre, wurde gekippt.

Nichtstaatliche, vor allem kirchliche Organisationen (NGO) dürfen aber in Kuba arbeiten und kommen für ihre Projekte auch an BMZ-Gelder heran. Die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe (EZE) finanziert ein Pilotprogramm der Enten- und Kaninchenzucht als Selbstversorgungsprojekt in Agrargenossenschaften.

Brot für die Welt fördert die Ziegelproduktion in sechs Provinzen und Biogasanlagen auf Zuckerkomplexen in Matanzas und Ciego de Avila. Dieselbe Organisation lieferte im Vorjahr Rohstoffe für die pharmazeutische Industrie und rüstete ein Altersheim in Havanna aus. Insgesamt kanalisiert der Ökumenische Rat in einem Zeitraum von drei Jahren 5,8 Millionen Dollar in 28 Projekte. An fast allen dieser Vorhaben sind deutsche kirchliche NGOs beteiligt.

Die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen ist für Kuba eine neue Erfahrung – und die Vorstellung, Empfänger von Entwicklungshilfe zu sein, ist den Kubanern sichtlich peinlich. „Wir sind doch nicht Burundi“, betont Rafael Roqueta, Abteilungsleiter im Ministerium für Zusammenarbeit. Der Einsatz von Entwicklungshelfern sei unangebracht, da es dem kubanischen Personal nicht an Ausbildung fehle.

Tatsächlich kann man Kuba – das Experten in 34 Staaten der Erde entsandt hat, von Nicaragua über Mosambik bis zu den Seychellen – kaum als Entwicklungsland bezeichnen. Kubanische Ärzte, Agraringenieure und Trainer für die verschiedensten Sportarten sind gefragte Spezialisten. Doch seit sich der sozialistische Wirtschaftsverbund COMECON aufgelöst hat, sind Nahrungsmittelhilfe und jede Art von Alternativtechnologie hochwillkommen.

Selbst die Parteienstiftungen, die in vielen Ländern des Kontinents schon Präsidenten aufgebaut oder vernichtet haben, finden in Kuba offene Türen. Zwar dürfen sie noch keine Büros mit ständigen Vertretern aufmachen, doch mit ihren Seminaren und Austauschprogrammen sind sie längst vor Ort, die SPD-nahe Friedrich- Ebert-Stiftung arbeitet hier bereits seit fast zehn Jahren.

Im November des Vorjahres wurden kubanische Betriebsleiter eingeladen, fünf deutsche Städte zu besuchen. Im kommenden November werden deutsche Unternehmer nach Kuba geschickt. Über Friedrich Ebert wurden sogar Kontakte zu investitionswilligen Kapitalisten aus den USA angebahnt, die schon lange eine Aufhebung des Wirtschaftsembargos fordern.

Selbst die CSU-nahe Hanns- Seidel-Stiftung, deren Interesse in Kuba sicher nicht die Systemfestigung ist, wird nicht geschnitten. Anfang Mai durfte sie erstmals ein Seminar auf kubanischem Boden veranstalten, zu dem auch Exilkubaner eingeladen wurden. Zwar fand das Treffen hinter verschlossenen Türen statt, und die Partei wachte darüber, daß keine Extremisten eingeladen würden, doch verfehlte die Veranstaltung nicht ihren Effekt: die rechtsextreme Exil-Szene in Miami tobte vor Entrüstung.

Die zunehmende Öffnung, sei sie von der Einsicht diktiert oder von der Not, ist überall zu spüren. Der Untergang der Sowjetunion mag eine wirtschaftliche Katastrophe ausgelöst haben, doch gleichzeitig führte er in Kuba zu einer ideologischen Lockerung. „Auf den Unis entdecken wir gerade die lateinamerikanischen Marxisten“, erzählt ein Wirtschaftsforscher.

Und Professoren, die als Experten für Planwirtschaft ausgebildet wurden, werden im Schnellverfahren auf kapitalistische Volkswirtschaftslehre umgeschult. Der wissenschaftliche Atheismus als Pflichtfach ist abgeschafft. Schließlich dürfen seit dem jüngsten Parteitag auch Christen in die Partei eintreten. Seit dem Vorjahr ist das Bekenntnis zur Gottlosigkeit auch aus der Verfassung getilgt worden. „Wenn sie uns im Diesseits schon nichts zu bieten haben, müssen sie uns wenigstens die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod eröffnen“, heißt die Interpretation der Witzbolde.

Die Verbesserungen im kubanischen Diesseits werden mit Sicherheit noch einige Zeit auf sich warten lassen. Wo überstürzte politische und wirtschaftliche Reformen hinführen, haben die ehemaligen sozialistischen Bruderländer vorexerziert. „Und wer sich von Konzessionen an den Westen handfeste Gegenleistungen erwartet, der hat aus der Geschichte nichts gelernt“, erklärt der Soziologe Luis Suarez. Die von der jeweiligen Revolutionspartei nach den Spielregeln des Westens gewonnenen Wahlen in Nicaragua 1984 oder in Angola im Vorjahr haben die bewaffnete Aggression nicht gestoppt. Die Einführung eines Mehrparteiensystems, nur um dem Ausland zu gefallen, käme daher überhaupt nicht in Frage, meint Suarez.

Zumindest bei Kubakennern setzt sich die Einsicht durch, daß nicht der Sturz Fidel Castros, sondern sein Überleben die Voraussetzung für einen geordneten Übergang auf der roten Insel ist. Das hört man bei Diplomaten in Havanna und inzwischen selbst in aufgeklärten Kreisen in den USA.

Die jüngsten Gemeinde- und Parlamentswahlen in Kuba ermöglichten dem einzelnen mehr Mitspracherecht als das bisherige Wahlsystem. Die neue Nationalversammlung muß erst noch beweisen, daß sie echtes politisches Gewicht hat. Mehr Rechte für die Basis und eine Emanzipation der gefügigen Massenorganisationen stehen auf dem Programm. „Wir stecken in einer Phase des Übergangs“, versichert ein Funktionär im Zentralkomitee, „das Problem ist, daß man bei einem Übergangsprozeß nie weiß, wo man ankommt.“

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