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Der Feind steht im Osten

Eine „Minderheit“ von 48 Prozent bleibt draußen, wenn in Lettland ein neues Parlament gewählt wird  ■ Aus Riga Matthias Lüfkens

In einer Sparkasse im Zentrum der lettischen Hauptstadt Riga diskutieren zwei Russen. Der Ältere versteht kein Wort des lettischen Bankformulars. Paradox genug: Der lettische Staatsbürger spricht kein Lettisch, obwohl seine Familie schon seit der Jahrhundertwende in der baltischen Republik wohnt. Der junge Russe dagegen, der ihm das Formular ausfüllt, ist vor 26 Jahren in Riga geboren und spricht fließend lettisch. Er aber hat die lettische Staatsangehörigkeit nicht erhalten, denn seine Eltern sind „illegale Einwanderer“, „Besatzer“ und „Kolonisten“. Gängige Begriffe in Riga, wenn man derzeit den russischsprechenden Bevölkerungsanteil Lettlands nennt. Die Szene ist beispielhaft für die Lage der Russen in Lettland, die mit 48 Prozent fast die Hälfte der 2,6 Millionen Einwohner stellen. Die Letten scheinen sich für 50 Jahre sowjetische Unterdrückung zu rächen. Noch vor wenigen Jahren wurden sie in vielen Läden nicht bedient, wenn sie ihre Landessprache sprachen. Russisch war fast zur offiziellen Sprache erhoben. Durch die forcierte Russifizierungspolitik sind die Letten in der Hauptstadt Riga selber zu einer 30prozentigen Minderheit geworden. Lettland wurde zu dem Baltenstaat mit dem größten russischen Bevölkerungsanteil. Zu Zeiten der Sowjetunion waren zwar alle Straßenschilder zweisprachig, wissenschaftliche Texte aber mußten auf russisch verfaßt werden. Seit ihrer Unabhänigkeit haben die Letten den Spieß umgedreht.

„Das lettische Volk steht kurz vor dem Untergang“, sagt Aristide Lambergs, Kandidat der national- radikalen Unabhängigkeitspartei (LNNK), die allen Umfragen zufolge als zweitstärkste Partei mit zehn bis 20 Prozent aus den Wahlen hervorgehen wird. Die meisten der 23 Gruppierungen, die am Samstag und Sonntag zu den ersten postkommunistischen Wahlen antreten, sind sich in einem Punkt einig: Eine Einbürgerung der gewaltigen russischsprechenden Minderheit bedeute den Untergang Lettlands. Die Angst vor dem Verschwinden des kleinen Volkes wird durch die demographische Situation verschärft, denn die Russen bekommen anscheinend mehr Kinder als die Letten. „Wir können nicht anders, aber für uns gibt es keinen Unterschied zwischen Sowjets und Russen“, entschuldigt Außenminister Georgs Andrejevs, Kandidat des „Lettischen Wegs“, einer erzkonservativen Wahlkoalition, die laut Umfragen mit 20 bis 30 Prozent die größte Fraktion im neuen Parlament wird. Weil man den Russen nicht traut, viele Letten einen unverblümt rassistischen Haß gegen die „fünfte Kolonne Moskaus“ hegen, wurden die meisten von der Wahl ausgeschlossen. Das neue Parlament, der „Saeima“, das den alten „Obersten Rat“ der ehemaligen Sowjetrepublik ablösen soll, wird nur von denjenigen Bürgern Lettlands gewählt, die vor der Okkupation von 1940 bis 1990 in Lettland gelebt haben – und natürlich von deren Nachfahren. Über 700.000 „Nichtbürgern“, wie man die Einwanderer nennt, ist damit das Wahlrecht abgesprochen worden.

Viele der moderaten Russen, die beim Unabhänigkeitsreferendum 1991 für die staatliche Souveränität Lettlands eingetreten waren, fühlen sich hintergangen. Nicht nur der „Oberste Rat“ hat sich unter dem Einfluß der extremistischen Nationalisten radikalisiert. Das Bürgerkomitee, ein Parallel-Parlament der lettischen Bürger, hatte dem „Okkupations- Parlament“ von Anbeginn an jegliche Legitimität abgesprochen. Dazu gehört auch das Recht, die Wählerschaft zu erweitern. Ines Bircniece, Kandiatin des Lettischen Wegs, weißt darauf hin, daß nur das lettische Volk über eine Einbürgerung der Russen im Land entscheiden könne: „Wir wollen wieder Herr im eigenen Haus sein.“ Konkret: Die lettische Regierung hat sich für den Weg zurück nach Vorkriegs-Lettland entschieden.

Am kommenden Wochenende wählen 1.245.000 Wahlberechtigte die 100 Abgeordneten des 5. Saeima gemäß der Verfassung von 1922. Ganz nebenbei hat sich das lettische Parlament durch den Ausschluß der russichen „Nichtbürger“ auch eine genehmere Wählerschaft geschaffen. Das offizielle Riga besteht derweil darauf, daß die Modifizierung nicht speziell gegen die Russen gerichtet sei. Nach wie vor seien rund 28 Prozent der Wahlberechtigten „Nicht-Letten“, verlautet aus Rigaer Regierungskreisen. Und zudem seien auch Letten vom Wahlrecht ausgeschlossen, diejenigen nämlich, die zu Zeiten des Zarenreiches nach Rußland gezogen und erst nach 1940 zurückgekehrt waren.

Ein Einbürgerungsgesetz ist auch nicht in Sicht. Sollte es überhaupt jemals beschlossen werden, so wird das werk aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Quotenregelung basieren. Die für eine lettische Staatsbürgerschaft nötige Aufenthaltsdauer im Baltikum soll nach bisherigen Plänen zwischen fünf und 16 Jahren liegen. Im Ausgleich für diesen langen Zeitraum wird der Sprach- und Geschichtstest wohl nur eine geringe Rolle spielen. Zudem soll eine jährliche Einwanderungsquote festgelegt werden, „um das jetzige Verhältnis von 72 Prozent Letten und 28 Prozent Einwanderern zu wahren“, meint Aristide Lambergs. Die LNNK und andere Rechtsgruppierungen stellen den illegalen Einwanderern außerdem ein drastisches Repatriierungsprogramm in Aussicht, und viele würden die Russen am liebsten in Viehwagen nach Rußland befördern – ähnlich den Letten, die zu Beginn der sowjetischen Besetzung des Baltenstaates 1939 deportiert worden waren. „Die Staatsangehörigkeit ist nicht so wichtig wie die Vermögensverhältnisse“, merkt Andrej Borisows, russischer Regierungsberater, an. Ein Ausländer darf in Lettland bisher keinen Grund und Boden erwerben. Die Nichtbürger sind in einer Reihe von anderen Gesetzen wie Bürger zweiter Klasse benachteiligt: Einem Gesetz zufolge dürfen nur lettische Staatsbürger Waffen tragen. Auch die neuen Privatisierungszertifikate im Wert von je einem halben Wohnquadratmeter werden ungleich verteilt. „Ein Staatsbürger bekommt 15 Zertifikate mehr, denn seine Vorfahren haben die Infrastruktur gebaut“, erklärt Raimundas Razukas, der Leiter der „Volksfront“, die vor drei Jahren ganz Lettland vereinigte. Jetzt wird die Partei wohl knapp über die Vier-Prozent-Hürde kommen. „Dieses Verteilungssystem ist ein Irrsinn“, meint Irina, eine 38jährige Russin, die vor 30 Jahren nach Riga gekommen ist. Ihr Mann ist Russe mit lettischer Staatsbürgerschaft. „Meine Kinder im Alter von 15 und 13 Jahren bekommen mehr Zertifikate als ich, obwohl sie nie gearbeitet haben.“ Hinzu kommt, daß die Feststellung der Ankunftszeit der „Einwanderer“ von den lettischen Einwanderungsbehörden sehr willkürlich gehandhabt wird. So wurden der Maria Iwanonwa nur drei Zertifikate bewilligt, denn sie hatte 49 Jahre in einem Kindergarten der sowjetischen Armee gearbeitet. Armeeangehörige und -angestellte gehen bei der Vermögensverteilung leer aus. Diese Ungerechtigkeiten sind zwar kürzlich vom UN-Hochkommissar für Minderheiten kritisiert worden, doch seine Vorschläge beantwortete das Außenministerium mit einer ablehnenden Haltung.

Was den gespannten interethnischen Beziehungen am meisten schadet, sind die oft rassistischen Wahlslogans der rechtsnationalen Parteien. Letzten Umfragen zufolge werden diese Gruppen auf beachtliche 15 Prozent kommen. Die „Unabhängigkeitspartei“ beispielsweise fordert in Werbeanzeigen auf lettisch und russisch ein „lettisches Lettland“ und die Rückkehr der Einwanderer in ihr „ethnisches Heimatland“. Viele Russen wissen allerdings nicht so genau, wohin sie gehen sollten. „Die Franzosen, die Algerien verlassen mußten, konnten in ein reiches Frankreich zurückkehren. Wir haben nur ein zerfallenes, armes Rußland“, meint Andrej Borisows. Außenminister Georgs Andrejevs hofft auf ausländische Hilfe bei der „Repatriierung“, und wundert sich darüber, daß die heimkehrenden Russen von Moskau als „Flüchtlinge“ eingestuft werden. Für ein liberaleres Einbürgerungsgesetz tritt einzig die „Gemäßigte Bewegung“ von Janis Jurkans ein, doch der ehemalige Außenminister ist als russenfreundlich verschrien. Seine Partei bereitet sich bereits auf die Opposition vor. Der Russenhaß hat auch die Intelligenzia erfaßt. So schrieb der lettische Nationaldichter Imants Ziedonis kürzlich über „die vorsätzliche Zerstörung des lettischen Gen-Guts“. Eines von Hunderten Beispielen für die schnelle Umkehr vom Kommunismus zum Nationalismus. Auch der „Wetterhahn-Kommunist“ Anatolijs Valerianowitsch Gorbunovs, der seit 1990 Parlamentsvorsitz innehat, blickt auf eine rote Vergangeheit zurück. Noch kurz nach seiner Wahl versprach der vor allem bei der russischsprechenden Minderheit sehr populäre Politiker Gorbunovs allen Einwohnern die Staatsbürgerschaft. Heute führt er die konservative Allianz „Lettischer Weg“ und tritt für eine Quotenregelung ein. Die Tage der politischen Karriere des ehemaligen Ideologiesekretärs der lettischen KP scheinen gezählt, seitdem ein Schreiben aus dem Jahre 1985 veröffentlicht wurde, indem er von Moskau die drastische Reduktion des Tourismus der Exilletten forderte, da deren Reisen einen schlechten Einfluß auf die lokale Bevölkerung habe. Unangenehm für Gorbunov: Die Exilletten beherrschen mittlerweile die politische Landschaft in Riga: Als aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat gilt der Amerika-Lette Gunars Meierovics, Sohn eines ehemaligen lettischen Außenministers. Letzten Umfragen zufolge fehlt dem „Lettischen Weg“ allerdings eine klare Mehrheit im Parlament und es wird nicht ohne eine Koalition mit der Bauernpartei oder der radikalen LNNK gehen.

Den Beziehungen mit dem großen Nachbarn Rußland sind derartige Sprüche wenig zuträglich. Hinzu kommt, daß auch die moderaten Parteien auf Konfrontationskurs zu Rußland gehen. Auch die russischen Demokraten werden als Imperialisten abgestempelt. Solange noch 22.000 russische Soldaten in Lettland stehen und Moskau den Truppenabzug mit den angeblichen „Menschenrechtsverletzungen an der russischen Minderheit“ in Verbindung bringt, birgt dies einigen Sprengstoff. Moskau hat bereits Forderungen auf eine zukünftige Truppenpräsenz in Lettland erhoben. Zumindest an der Abhörstation in Ventspils und dem strategischen Radar in Skrunda wollen die russichen Militärs bis ins nächste Jahrtausend festhalten.

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