: Es wird weniger in die Hände gespuckt
■ Wer steigert denn nun das um 3,7 Prozent geschrumpfte Bruttosozialprodukt? / Westdeutschland rutscht immer tiefer in die Rezession / Immer mehr Menschen auf der Suche nach bezahlter Arbeit
Wiesbaden/Berlin (AP/dpa/taz) Die Rezession in Westdeutschland hat sich im ersten Quartal 1993 weiter verschärft. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) schrumpfte im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 3,2 Prozent, wie das Statistische Bundesamt gestern mitteilte. Dies sei der stärkste Rückgang seit 18 Jahren gewesen. Saisonbereinigt nahm das BIP zum vierten Mal in Folge gegenüber dem Vorquartal ab. Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) äußerte in Bonn die Sorge, die derzeitige Rezession werde schwerer sein als die Wirtschaftsflauten in den 60er, 70er und Anfang der 80er Jahre. Er forderte weitere Zinssenkungen von der Bundesbank.
Der Bundesbank-Zentralbankrat, der gestern tagte, ließ die Leitzinsen jedoch unverändert. Gegen Zinssenkungen hatte sich Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger bereits am Mittwoch gewandt. Die Rezession sei bisher nicht stärker ausgeprägt als in früheren Abschwungphasen. Von der „tiefsten deutschen Rezession“ könne erst geredet werden, wenn weitere wirtschaftspolitische Fehler gemacht würden, schob Schlesinger den Schwarzen Peter zurück nach Bonn. Das Bruttosozialprodukt (BSP), das die gesamtwirtschaftliche Einkommensentwicklung erfaßt, sank in den ersten drei Monaten gegenüber dem Vorjahr sogar um 3,7 Prozent. Nach Angaben der Statistiker ist dies der stärkste reale Rückgang seit Beginn der Vierteljahresberechnungen im Jahr 1968.
Wichtigste Ursache für den stärkeren Einbruch beim BSP sei der deutliche Anstieg der ins Ausland geflossenen Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die sich nur auf das Sozialprodukt auswirkten, erläuterten die Statistiker. Während das Bruttoinlandsprodukt die gesamte in Westdeutschland erbrachte bezahlte Arbeitsleistung erfaßt, mißt das Bruttosozialprodukt Leistung und Einkommen der heimischen Unternehmen und Arbeitnehmer, egal, wo sie erwirtschaftet wurden.
Der Konjunktureinbruch betraf nach Berechnungen des Bundesamtes alle Bereiche. So brachen die Ausrüstungsinvestitionen innerhalb eines Jahres um 14,8 Prozent ein. Ähnlich hohe Minusraten seien zuletzt im Anschluß an die erste Ölkrise im ersten Halbjahr 1974 beobachtet worden. Auch die Bauinvestitionen sanken vor allem witterungsbedingt um 0,7 Prozent. Der private Verbrauch nahm um ein Prozent ab.
Die Statistiker machten neben dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und den starken Preissteigerungen auch die Mehrwertsteuererhöhung für die Kaufzurückhaltung verantwortlich.
Die ungünstige Konjunkturlage schlug nach Angaben der Statistiker voll auf den Arbeitsmarkt durch. Im ersten Vierteljahr 1993 waren fast 350.000 Menschen weniger erwerbstätig als ein Jahr zuvor. Einen ähnlich starken Rückgang registrierte die Wiesbadener Behörde zuletzt 1983. Die Zahl der Stellungssuchenden habe mit fast 395.000 Personen um 21,5 Prozent höher gelegen als vor einem Jahr.
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