Gott im Com pu ter

„Pompeji wieder entdeckt“: eine Ausstellung in Stuttgart eröffnet das Zeitalter der musealen Spielhallen  ■ Von Christian Gampert

Der Anfang ist Abenteuerfilm und Geisterbahn: durch dunkelgrau gestrichene Tunnel schleichen wir uns langsam vorwärts; seitlich von uns, in einem Lichtschacht, liegt der grell angestrahlte Kunstharzabguß eines Frauenkörpers, einer Pompejanerin, die damals, 79 nach Christus, vergeblich vor den Magmamassen und dem Ascheregen des Vesuvs zu flüchten versuchte. Noch im Tod ist ihr Mund verzweifelt aufgerissen. An ihr vorbei bewegen wir uns in einen runden, kuppelartigen, abgedunkelten Raum, eine Art archäologische Schaltzentrale. In ihrer Mitte sind in sargähnlichen hohen Vitrinen die Exponate gelagert, während uns von den Wänden kulturgeschichtlich programmierte Computer anblinken.

Der Bühnenbildner Hans Dieter Schaal, der für die Inszenierung dieser Stuttgarter Pompeji-Ausstellung verantwortlich zeichnet, hat mit seinen labyrinthischen Stollen, mit seiner Tunnelarchitektur zumindest die bedrohliche Atmosphäre unter dem Vesuv ins Bild gerückt: wer als Besucher davon abstrahieren kann, daß sich hinter jeder Theaterdekoration Schrauben und Preßspanplatten verbergen, der sieht sich von grauen, steingewordenen Lavamassen umgeben – bevor er dann eintreten darf in den wirklichen Ausstellungsraum, die Museums- Kirche, in den Technologie-Dom.

Denn der Gag (und das Problem) der Stuttgarter Römerschau sind die netten kleinen Computer, mit denen in den kommenden Monaten (hunderttausend Besucher werden erwartet) ganze Schulklassen sich amüsieren werden.

Der Einsatz dieser Maschinen dient ersichtlich dem Renommé der Firma IBM. Per Bildschirm kann der Interessierte alle möglichen Auskünfte über die in Deutschland noch nie ausgestellten pompejanischen Vasen, Töpfe und Götterbilder, über die Wandmalereien im „Vettier Haus“ oder die Konstruktion der Thermen von Stabiae abrufen. Kulturgeschichte wird da angeblich leichtgemacht: kurz mal antickern, schon hat man ein Fresko plus Begleittext auf dem Monitor – oder vielmehr ein flimmerndes Repro mit dazugehörigem Waschzettel; viel Details, wenig Überblick. Nur zu: drücken Sie einfach mal auf den Screen, und „die Grafik baut sich auf“ (Ulrich Deppendorf), Grundrisse von Häusern, Stadtpläne, geologische Querschnitte. Motto: „Touch a flag to see a room.“ Und kaum hat man getatscht und gekuckt, verschwindet der Computertext – der nächste Kunde drängelt schon.

Daß es zu dieser seltsamen Stuttgarter Computershow überhaupt gekommen ist, hat sehr viel mit der verworrenen Geschichte der Archäologie und noch mehr mit der italienischen Kulturpolitik zu tun. Nach der Entdeckungseuphorie und der Antikenbegeisterung des 18. Jahrhunderts, die den Vulkanausbruch als archäologischen Glücksfall begriff, brauchte man bis 1860, um mit Giuseppe Fiorelli zu einer systematischen Grabungsarbeit zu kommen. Und obgleich die unter einer fünf Meter dicken Ascheschicht liegenden Reste der pompejanischen Gesellschaft famos erhalten waren, begann gerade bei den freigelegten Ruinen der witterungsbedingte Verfall. Unter vielen Streitigkeiten legte man bis 1940 praktisch die ganze Stadt frei – die meisten der in Pompeji aufgefundenen historischen Objekte aber kamen nach Neapel ins Museum, Teile der Gebäude verlandeten. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, der italienische Staat hatte kein Geld, nahm der Verfall der Ruinen bedrohliche Ausmaße an. Da geschah, nach der Vulkankatastrophe von 79 nach Christus, ein zweites Unglück, das im nachhinein eine segensreiche Wirkung entfaltete: 1980 brachte ein Erdbeben die pompejanischen Überreste nochmals durcheinander, so daß man sich nun für die endgültige Aufgabe oder aber für eine systematische Restaurierung entscheiden mußte.

Und eben dieses Konzept zur Erhaltung des untergegangenen Pompeji, 1984 auf den Weg gebracht, war entscheidend vom Einsatz der Computertechnologie abhängig. Warum auch nicht? Schließlich ist es sinnvoll, beim Abtragen diverser Grabungsschichten mit dem Computer Buch zu führen oder die gefundenen Gegenstände statt in dickleibigen Listen auf einfacher zugänglichen Festplatten zu inventarisieren. Ganz Pompeji ist jetzt datenmäßig erfaßt, beschrieben, analysiert; von der elektronisch gesteuerten Kartographie bis zur Darstellung der vesuvischen Vulkantätigkeit, von der Rekonstruktion verblichener Wandgemälde bis zur Simulation eingestürzter Gebäudeteile auf dem Bildschirm wurden Wissenschaftlers Kinderträume wahr.

Mag sein, daß das Arbeit spart, daß man Hypothesen schneller und einfacher mal durchprobieren kann. Der Einsatz dieser neuen Medien für das Publikum aber ist ein zweiter Schritt, der eindeutig von kommerziellen Interessen geprägt ist. Die Konsequenzen sind verheerend, denn der Computer entschärft den Blick (und das Interesse) für das Wesentliche: der neugierige Blick wird ersetzt durch die gesteuerte Perspektive, die offene Fragestellung durch das Kurz- und Lernprogramm.

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Und das ist ziemlich schade, weil man gar nicht mehr sieht, welche Geschichten die ausgestellten Objekte selber erzählen.

Der Mythos der untergegangenen Stadt wird durch sie auf ein sympathisches Alltagsniveau heruntergeholt: unterschiedliches Kochgeschirr, vom irdenen bis zum reichverzierten Bronze-Topf, kündet von den gesellschaftlichen Klassen und ihrem Lebensstandard; Siebe, Armreife, Pinzetten, Kämme oder Öllampen belegen eine hochentwickelte Handwerkerkultur dieser Kleinstadt, in der die Reichen auch nach der Landreform zum Teil noch große Latifundien behalten durften – und deshalb, als der große Ascheregen kam, gar nicht zu Haus in der Stadt, sondern in der Sommerfrische waren. Noch die Götterstatuetten künden von lockeren Sitten und tiefsitzenden Strafängsten – die Auswahl reicht von der leicht obszönen Figur des trunkenen Herakles, sein Wasser abschlagend, bis zu den horriblen Satyrköpfen und mänadischen Weibern, die als Wasserspeier oder Gewölbeverzierungen im Stadtbild präsent waren. Trotzdem gibt es noch eine Überraschung: die mit der Suggestion versteinerter Lava arbeitenden „Anmutungsqualitäten“ der Ausstellung, diese graue, bunkerhafte Atmosphäre der Bedrohung wird aufs Schönste konterkariert von der pompejanischen Architektur selbst. Zwei Beispiele sind auf- bzw. nachgebaut: ein mit vielfarbigen Mosaiken geschmücktes Nymphäum – das ist ein zum sakralen Ort gewordener, ins Haus integrierter Brunnen – der in der Tradition der Nymphen-Grotte steht; und jenes in dichtem Blattgrün bemalte Eßzimmer eines Hauses der Insula Occidentalis, das durch Darstellung von Sträuchern und Bäumen und zahlreichen Vögeln, von Staren im Kirschbaum die Illusion einer Volière, eines Gartens, einer Landschaft erzeugt und auch im heutigen Betrachter eine heitere Freundlichkeit hinterläßt.

Den Garten ins Haus integrieren – im heißen Kampanien war das eine so existentielle Notwendigkeit, daß man auch die Zimmer mit solchen Trompe-l'÷il-Malereien wenigstens scheinbar nach außen öffnete. Und die Entspanntheit dieser pompejischen Innenarchitektur trägt natürlich aufs Neue zur Mystifikation des Lebens vor der Katastrophe bei, zur Sage, daß vor dem apokalyptischen Vesuv- Ausbruch die Stadt ein Garten Eden gewesen sei. Es gibt viele Geschichten, die die Ausstellung dazu erzählen müßte – von Wahlen und Geldgeschäften, vom Beamtenapparat, den Nutten an der Via dell'Abbondanza und der merkwürdigen Beliebtheit Neros, von den zur Fan-Schlacht ausartenden Gladiatoren-Kämpfen zwischen Pompeji und Nuceria, von den Problemen der Sklaven und den Streitigkeiten um die Landaufteilung. Tut sie aber nicht. Sie bietet statt dessen einen pompejischen Warenkatalog auf minitel.

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Als wir das Ende des Lava-Tunnels erreichen und ans Tageslicht treten, steht dort ein lächelnder älterer Herr, Baldassare Conticello, der „Sopraintendente Archeologico di Pompei“ und Leiter der Ausstellung. Er verteidigt natürlich seine Computer, seine dienstbaren Geister, er preist die Vorteile des „gezielten Suchens“ und der „Informationsvermittlung“ – und dann erzählt er plötzlich von „der Magie“ und „dem Geheimnis“ Pompejis, von Gerüchen und Geräuschen, von Nachtschwärmern und bellenden Hunden, die abends durch die Ruinen streifen.

Eigentlich, sagt Signore Conticello, müsse man nach Pompeji fahren, vielleicht auch nach Stuttgart, auf alle Fälle aber nach Pompeji. Es klingt ein bißchen traurig; der Mann hat Heimweh.

Galerie der Stadt Stuttgart, bis 11.7.; Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, vom 30.7. bis 26.9. Der Katalog kostet 49 DM.