Bald ist Merçimek wieder vergessen

Im Heimatdorf der fünf in Solingen verbrannten Frauen und Mädchen mischt sich zornige Trauer mit Resignation: „Sagt den Leuten in Deutschland, sie sollen keine Türken ermorden“  ■ Aus Merçimek Dorothea Hahn

Der Umschlag mit dem Kanzler-Brief klemmt schon hinter dem Glasrahmen mit den Familienfotos und den getrockneten Tabakblättern – an der selben Wand, an der auch der grün-blaue Schmuckteppich mit dem röhrenden Hirsch und den beiden Rehen hängt. Auf türkisch und auf deutsch hat Helmut Kohl den Öztürks sein „tief empfundenes Beileid“ übermittelt. Gemeinsam mit Millionen seiner Landsleute sei er „erschüttert über das grausame Verbrechen“, schreibt der große Abwesende der Trauerfeiern für die Mordopfer von Solingen.

Der mit „stillem Gruß“ unterzeichnete Kanzlerbrief kam zusammen mit den Särgen der Toten in Merçimek an. Der türkische Provinzgouverneur überreichte ihn am Freitag – dem Tag der Beerdigung, als Merçimek für ein paar Stunden das Zentrum der Türkei war.

Von Merçimek aus war vor einem Monat die 12jährige Gülüstan zu ihrer Deutschlandreise aufgebrochen. Sie verließ ein zentralanatolisches Dorf mit zweihundert Holz- und Lehmhäusern, von denen achtzig unbewohnt sind. Mit einem Teehaus, in dem sich die Männer treffen, einem Krämerladen, einer Moschee und einer Grundschule, die nach dem fünften Schuljahr endet.

Am Tag nach der Beerdigung sitzt ein Dutzend Kondolenzbesucher in Öztürks Wohnzimmer und läßt die türkische Übersetzung des Kanzlerbriefs von Hand zu Hand gehen. Zwei kleine Mädchen studieren ihn gemeinsam, als wollten sie die beiden Absätze auswendig lernen. Die Männer drängen sich auf den vier großen Sofas an den Wänden des quadratischen Raums. Die Frauen und Mädchen hocken auf dem Boden neben der Tür zur Küche.

In den nächsten Tagen wird der Besucherstrom nicht abreißen. Die Familie soll mit ihrer Trauer nicht allein bleiben. Wer hereinkommt, küßt die Hand des Vaters der Toten, umarmt ihn und setzt sich. Die anderen rücken enger zusammen.

Der Kanzlerbrief und die Beileidswünsche der zur Beerdigung angereisten deutschen Politiker sind alles, was Șheri und Idris Öztürk von ihrer Tochter Gülüstan zurückbekommen haben. Am Telefon hatte das Mädchen ihnen versichert: „Solingen ist sehr schön und die Menschen hier sind sehr gut. Es ist alles so, wie ich es wollte.“

Gülüstan war das jüngste der vier Kinder und als einzige ungebunden genug, der Familie Genc, die schon in Deutschland lebte, bevor sie geboren wurde, zu folgen. Ihre beiden älteren Schwestern sind schon verheiratet und der vierzehnjährige Bruder geht in der Kreisstadt Tașova in die Schule. Gülüstan hatte vor einem Jahr die Grundschule beendet. Seither besuchte sie nur noch die Koranschule und half der Mutter bei der Arbeit auf dem Feld.

Nun liegt ihr verkohlter Körper unter der schweren Lehmerde auf dem Friedhof von Merçimek – keine zweihundert Meter vom Hause der Eltern entfernt. Rund um Gülüstans Grab und die vier frischen Gräber der Familie Genc stehen Blumen- und Plastikgebinde auf langen Holzstöcken. Die bunten Schleifen mit den „besten Grüßen des türkischen Parlamentes“, des Bundesministers des Äußeren und der vielen Freunde aus den Nachbarorten, flattern im Wind.

Nur das flachgetretene hohe Gras und die zahllosen Zigarettenkippen vor dem Friedhof erinnern noch an den Ansturm vom Vortag. Einige 1.000 Menschen – mehr als je zuvor in dem kleinen Dorf waren – hatten sich an dem späten Nachmittag hier versammelt. Die Frauen von Merçimek trugen, wie immer, wenn sie zum Gebet gehen, weiße Kopftücher.

Bereits Stunden vor der Ankunft der offenen Bestattungswagen mit den fünf Särgen lagerten sie mit den kleineren Kindern auf dem Hang neben dem Friedhofseingang. Auf dem Platz zu ihren Füßen und auf dem Berg hinter ihnen patroullierten türkische Soldaten in Kampfanzügen – die Finger am Abzug ihrer Maschinengewehre. Spielende Kinder scheuchten sie mit einem Wink des Gewehrkolbens zur Seite. Jugendliche, die mit einem Transparent gekommen waren, forderten sie unmißverständlich auf, jede politische Stellungnahme zu unterlassen.

Der Platz am Ausgang des zentralanatolischen Dorfes Merçimek gehörte an diesem Tag den Politikern, – denen aus Ankara und denen aus Bonn, die sich in letzter Minute doch noch entschlossen hatten, die Sicherheitsbedenken hintan zu stellen und nach dem offiziellen Trauerakt in der Kreisstadt Tașova die paar Kilometer hinauf in das Dorf zu fahren.

Mit den Politikern fielen die Journalisten ein, die Kamerateams und die Fotografen – auch sie mit dem Finger am Auslöser. Der völlig gebrochene Ahmed Inçi, dessen Frau Gürsun sich in Solingen rücklings aus dem Fenster in den Tod stürzte, um ihre dreijährige Tochter Güldane zu retten, konnte keinen Schritt tun, ohne abgelichtet zu werden. Zwei junge Männer führten den Mann, der aus eigener Kraft nicht mehr gehen konnte, durch das Blitzlichtgewitter bis zum Grab seiner Frau.

„Mein Kind, mein Kind“, schluchzten hunderte Frauen im Chor, als die Särge eintrafen. Wie die Tradition es vorschreibt, blieben sie draußen vor dem Tor des Friedhofs, während Männer die Särge zu den Gräbern trugen. Das Weinen der Frauen und das letzte Gebet des Hoca wurde von den laufenden Motoren der Politikerlimousinen übertönt, die mitten in der Trauergemeinde standen.

Vergeblich versuchten die Träger, am Grab die Särge zu öffnen, um die in weiße Tücher gewickelten Leichen in die Erde zu legen, wie es die Tradition vorschreibt. Diese fünf Särge waren in Deutschland fest zugeschweißt worden, niemand sollte mehr sehen, welche Schrecken sich darin verbargen.

Am Morgen danach erinnern nur die elektrisch verstärkten Gebete des Muezzin, die weit in das Tal hineinschallen, die Außenwelt an die Existenz Merçimeks. Die hölzerne Bahre, auf der sonst die Toten Merçimeks gewaschen und in weißes Tuch gewickelt werden, lehnt an der Außenwand der Moschee. Die Soldaten sind abgezogen. Die Journalisten sind weg. Nur die Familienangehörigen aus Deutschland, Ankara und Istanbul sind noch hier. In einer Woche reisen auch sie ab. Merçimek wird wieder in dem Nebel versinken, der so oft von den Bergen herabsteigt und das Dorf einhüllt. In vierzig Tagen, wenn neuerlich für die Toten gebetet wird, ist der Name Merçimek – zu Deutsch „Linsen“ – längst vergessen.

Vor allem die jungen Leute, die im Ausland leben, wissen das. Sie ahnen auch, daß Merçimek nur ein Name ist für ein Verbrechen, daß auch sie hätte treffen können. Der eine oder andere türkische Besucher aus Deutschland überlegt, jetzt doch in das Dorf zurückzukehren, in dem er bislang nur seine Urlaube verbracht hat. „Ich habe mich gestern auf der Beerdigung erkundigt“, erzählt Mehmet dem Vater. „Schweißer werden hier gebraucht. Ich könnte sofort Arbeit finden.“ Aber auch Mehmet weiß, daß bislang noch kein junger Mensch aus der Immigration zurückkam und im Dorf blieb.

„Das ist nicht normal, daß die Deutschen erst die Türken zum Arbeiten einladen und sie dann in ihren Häusern verbrennen“, sagt ein anderer Alter. „Sagt den Leuten in Deutschland, sie sollen keine Türken ermorden“, kritzelt ein junger Mann auf einen Zettel. Die aus Deutschland angereisten Trauergäste, ob verwandt oder nicht, reagieren am heftigsten. Sie prägen auch das neue Deutschlandbild in Merçimek.

Bei den älteren Emigranten richtet sich die Wut gegen die türkische Regierung, von der auch sie vertreten werden wollen. „Das sind alles Arschlöcher, die denken nur an die nächsten Wahlen“, poltert ein in Solingen lebender Mann. Er hat ein eigenes Haus und erwachsene Kinder in Deutschland. Für ihn ist der Rückweg nicht mehr einfach. Viel zu lange hätten die türkischen Politiker dem rechtsradikalen Treiben in Deutschland zugesehen. Selbst nach Solingen habe Demirel lieber in Antalya gebadet anstatt nach Deutschland zu fahren.

Ömer Kavak ist mit den Särgen eingeflogen. Das Protokoll, daß die Politiker der Beerdigung aufgezwungen haben, regt ihn wahnsinnig auf. Stundenlang standen die Särge in der prallen Sonne – bis endlich die Prominenten eintrafen, um sich mediengerecht darüberzulegen. „Das ist eine Beleidigung für die Toten“, sagte er.

Die jüngeren Emigranten hingegen – die in Deutschland „zweite Generation“ genannt werden – richten sich mit ihrer Wut an Bonn. Sie fühlen sich völlig allein. Fast alle glauben inzwischen, daß nur noch Selbstjustiz helfen kann. In Deutschland wollen sie auf jeden Fall bleiben, „das würde denen gerade so passen, daß wir jetzt auch noch verschwinden“, sagt ein junger Mann aus Dortmund. Am Rande der Trauerfeier in Tașova haben einige von ihnen eine Deutschlandfahne verbrannt. Ein Fernsehteam hat es gefilmt. „Ob die das wohl senden?“ rätseln sie nun. Die Mutter von Gülüstan sagt immer wieder „Nein, nein, nein“, wenn sie das Wort Selbstjustiz hört. Ihr Mann schüttelt traurig den Kopf, „Gewalt erzeugt nur neue Gewalt. Das hilft niemandem, am wenigsten den Türken in Deutschland. Die müssen da doch weiterleben.“

Idris Öztürk ist ein Bücherwurm. In seiner Freizeit verschlingt der Fabrikarbeiter ganze Lexika. Die deutsche Kultur und Geschichte hat ihn, der nie in dem Land gewesen ist, schon immer interessiert. Vor kurzem hat sich den neuen, 24bändigen Larousse gekauft. Das Kapitel über Deutschlands Vereinigung hat er als erstes gelesen. Auch nach dem Mord an seiner kleinsten Tochter – „sie war mein ein und alles“ – ist ihm die Hoffnung geblieben, daß „unterschiedliche Religionen friedlich zusammenleben“. Vorsichtig sagt er, daß er die Lage in Deutschland nicht von innen kennt. Aber er weiß, daß es „überall schlechte Menschen“ gibt. Und den Mörder von Gülüstan hätte er auch verflucht, wenn es ein Landsmann gewesen wäre.

„Das Leben geht weiter“, sagt Gülüstans Vater. Die Umsitzenden in dem mit Sofas vollgestellten Wohnzimmer nicken zustimmend. Außer dem Brief des Kanzlers haben Scheri und Idris Öztürk keine Unterstützung aus Deutschland bekommen. Demnächst steht ihnen die Abreise einer zweiten Tochter nach Solingen vor. Gülhan hat einen in Deutschland geborenen Türken geheiratet. In den vergangenen Monaten war der junge Ehemann arbeitslos. In solchen Fällen gestatten die deutschen Behörden keine Familienzusammenführung.

Doch jetzt hat er eine Anstellung gefunden und wenn es dabei bleibt, darf er Gülhan in ein paar Monaten holen. Gülhan wird dann keinen Moment zögern, in die Stadt zu ziehen, wo ihre Schwester verbrannt wurde. „Wo du hingehst, werde ich dir folgen“, sagt sie zu ihrem Mann.