piwik no script img

„Boatpeople“ aus China

Hunderttausende ChinesInnen kamen in den vergangenen Jahren als illegale Immigranten vor allem in die USA, nach Australien und Europa / Geschäft für Gangsterorganisationen  ■ Aus Hongkong Werner Meißner

Der Tod von acht illegalen Immigranten aus der VR China, die am 6. Juni zusammen mit mehr als 280 ihrer Landsleute ins eisige Wasser vor der Küste New Yorks sprangen und an Land zu schwimmen versuchten, als ihr Schiff, die „Golden Venture“, auf Grund lief oder möglicherweise auf Grund gesetzt wurde, wirft ein Schlaglicht auf die menschlichen Dramen, die sich zur Zeit vor den Küsten der Vereinigten Staaten abspielen. Die „Golden Venture“ ist kein Einzelfall: Dutzende von Billigfrachtern sollen vor den Küsten der USA liegen und darauf warten, bei günstiger Gelegenheit mit Schnellbooten ihre menschliche Fracht an Land zu setzen.

Seit Mitte der achtziger Jahre setzt aus der VR China kommend eine neue Flüchtlingswelle ein, die jetzt offenbar ihren ersten Höhepunkt erreicht. Die erschütternden Bilder mit den vietnamesischen Boatpeople – auch sie zum Teil Chinesen – sind Geschichte. Sie werden abgelöst von Bildern, die Hunderte von Festlandchinesen auf engstem Raum zusammengepfercht in Billigfrachtern zeigen. Ihre Zahl geht inzwischen in die Hunderttausende.

Auswanderungs- und Fluchtbewegungen sind nicht neu in China: Mitte des 19. Jahrhunderts setzten die großen Wanderungsbewegungen nach Südostasien und den USA ein. Jahrzehntelang herrschte ein grausamer Kulihandel, der chinesische Arbeitskräfte bis nach Amerika brachte. Der Höhepunkt war in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, kurz vor und nach dem Fall der Mandschu-Dynastie 1911. In der südchinesischen Provinz Guangdong gibt es Regionen, wo in den 20er Jahren binnen Monaten Hunderttausende ihren Wohnsitz verließen, nach Hongkong und Macau gingen, und von hier nach Südostasien und Übersee. Ausgangspunkte waren damals wie heute die Küstenstädte Guangdongs und Fujians.

In Hongkong wurden allein im Januar dieses Jahres 3.898 illegale Flüchtlinge aus der VR China registriert, mehr als doppelt soviel wie in den Monaten davor. Die Dunkelziffer dürfte wie stets um ein vielfaches höher liegen (selbst in Deutschland beantragten im Februar dieses Jahres bereits 629 Chinesen Asyl). Vor der Küste Hongkongs liegt stets eine große Anzahl von Schmugglerschiffen. Ihre Ziele sind vorwiegend die USA, Lateinamerika, Japan, Europa und Australien.

In New York sollen seit 1991 monatlich 6- bis 8.000 Flüchtlinge vom Festland eintreffen. Nach vorsichtigen Schätzungen beläuft sich die Anzahl derer, die 1991 illegal in die USA gekommen sind, auf über 100.000. Nachdem Ex-Präsident George Bush 1989 die Einwanderungsbehörde angewiesen hat, Asylanträgen besondere Beachtung zu schenken, die die chinesische Bevölkerungspolitik (1-Kind- Familie) als Fluchtgrund angeben, liegt die Zahl der anerkannten Asylanträge von ChinesInnen mit 80 Prozent besonders hoch.

Das Fluchtgeschäft ist einträglich: In der Hauptsache wird es von chinesischen Gangsterorganisationen organisiert: von Triaden in Südchina, Hongkong, Taiwan, Singapur und den USA. Nach Schätzungen des Justizministeriums der USA werden diese Gangs 1993 über drei Milliarden Dollar einnehmen. Neben dem Drogenhandel eine zusätzlich sprudelnde Einnahmequelle. Im Schnitt müssen Flüchtlinge 30.000 US-Dollar zahlen — für die Überfahrt, vorwiegend in Thailand gefälschte Reisedokumente und das Versprechen einer Kaution im Falle der Gefangennahme. Die „Menschenfrachter“ fahren unter der Flagge Panamas ebenso wie unter jener Taiwans und selbst der USA.

Die Frachter werden oft in Hongkong umgebaut und bunkern hier Treibstoff und Proviant. Die Fahrt beginnt meist in dem Ort Changle und der Insel Pingtan an der Küste der Provinz Fujian, die gegenüber der Insel Taiwan liegen. Hier werden die Flüchtlinge von Schleppern oder sogenannten „Schlangenköpfen“ auf die Boote gebracht, die sie zu den Frachtern bringen. In den letzten Monaten vollzieht sich die „Beladung“ verstärkt in den Gewässern Hongkongs und der Provinz Guangdongs. Auch Schnellboote der volkschinesischen Marine sind angeblich am Fährendienst zu den „Mutterschiffen“ beteiligt.

Bevorzugtes Ziel ist die Westküste der USA, vor allem Kalifornien, aber auch Tijuana an der Grenze Mexikos zu den USA, südlich von San Diego. Hier gehen die Flüchtlinge über die grüne Grenze in die USA. Andere Routen führen über Sansibar und Mombasa an die Ostküste der USA. Auch Florida wird angelaufen. Einmal gelandet, führt die Reise meistens in vier Städte: New York, Chicago, Los Angeles und San Francisco. In den großen Chinatowns können die Flüchtlinge untertauchen.

Woher haben „normale“ Chinesen plötzlich 30.000 Dollar, um die Überfahrt finanzieren zu können, und welches sind die Motive, die VR China zu verlassen? Seit dem Wirtschaftsaufschwung verfügen mehr Chinesen über mehr Geld, und es geht ihnen materiell besser als jemals zuvor unter der Herrschaft der KP Chinas. Offensichtlich schätzen sie aber die generelle Lage in der VR China so negativ ein, daß sie das gerade erarbeitete Geld für riskante Fluchtaktionen einzusetzen bereit sind.

Es ist möglich, daß Familien auch das Geld zusammenlegen, damit wenigstens ein Familienmitglied China verlassen kann, um einen „Brückenkopf“ im Ausland aufzubauen. Verwandte in den Zielländern werden ebenfalls helfen, die geforderte Summe aufzubringen. Bequemer haben es die Familien mit hohen Kadern: Ein Teil soll seine Kinder bereits im Ausland untergebracht haben: als Studenten mit Stipendien westlicher Organisationen oder – das gehört inzwischen mit zum Abschluß eines erfolgreichen Geschäfts – mit Unterstützung westlicher Firmen.

Das Ausmaß der Fluchtbewegung ist angesichts der hohen Kosten allerdings überraschend. Zumal die verfügbaren Daten nur die Spitze des Eisbergs zeigen. Sollte sich die politische Situation in China verschärfen, so muß man damit rechnen, daß nicht mehr Hunderttausende, sondern Millionen von Menschen versuchen werden, die VR China zu verlassen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen