piwik no script img

Vaters Gebärmutter oder Eine Landkarte

Das ist der Raum wo in alle möglichen Gläser

Alle möglichen menschlichen Körperteile hineingestopft sind

Alle möglichen Deformationen und seltenen Krankheiten

konnten wir sehen

Eigentlich konnte man auch alle möglichen Leichen sehen

Aber die Männer wollten dort nicht hingehen

Also sahen wir nur die Körperteile

Die menschlichen Körperteile hatten sich in der Flüssigkeit

verfärbt

Und bestimmt

Werden sie nie wieder lebendig

Schau, das ist der Arm meines Vaters, sagen

Die Männer und zeigen auf einen verschrumpelten Arm

Das ist Vaters Haut

Die Männer zeigen auf eine Haut mit Hautkrankheit

Das ist Vaters Magen

Die Männer zeigen auf ein Magengeschwür

Das ist Vaters Hoden

Die Männer zeigen auf einen Hoden mit Elefantenhaut

Das sind Vaters Knochen und Wirbelsäule

Das sind Vaters Fingergelenke

Das sind wir, die wir vom Vater geboren wurden

Und sie zeigen auf Föten mit Wasserköpfen

Und das bist du

Und sie zeigen auf einen Brustkrebs

Und das ist Vaters Gebärmutter

Sagen die Männer und zeigen auf eine Gebärmutter mit

Zähnen

Im Fleisch verborgen eine Zahnreihe

Das ist eine Krankheit oder eine Deformation

Möchte ich sagen, aber ich schweige

Das ist Vaters Gebärmutter

Als wir Kinder waren, wurden wir oft von Vater geschlagen

Das sind die grausamen Zähne der Gebärmutter, die uns

züchtigten

Einer unter heftigem Weinen

Der andere tanzend, zerschlagen die Männer

Plötzlich das Glas mit der Gebärmutter mit den Zähnen

Von Vater oder vom wem auch immer, ob krank oder

deformiert

Jedenfalls zerbricht das Glas

Tränen und Alkohol, Zähne und Glasscherben

Nichts als Sentimentalität, denke ich

Aber ich schweige

„Ich entfalte die Landkarte und möchte irgendwo hingehen

aber

Überall auf der Karte erhebt sich Vater.

Ich suche verzweifelt nach einem Ort wo Vater nicht ist.

Vater erhebt sich.

Überall auf der Karte, wohin mein Finger auch zeigt, erhebt

sich Vater.“

Diese Geschichte von Vater und Tochter erzählt mir einer der

Männer

Und gibt mir eine Landkarte

Eine Landkarte in einer fremden Sprache

Ich kenne die darauf verzeichnete Topographie

Auch die Namen der Orte kenne ich

Aber die Sprache vermag ich nicht zu lesen

Doch er kann sie lesen

So werde ich jedesmal wenn ich die Karte betrachte von der

Sprache

Von dem Mann, der die Sprache lesen kann

Raffiniert überwacht

Natürlich bereut

Der Mann, der mir die Karte gab, sofort, daß er mich

überwachte

Vor lauter Reue windet er sich

Sei still (wünsche ich)

Stirb (wünsche ich)

Auf die denkbar langweiligste Art will er sterben

Etwa indem er ausgekautes Kaugummi auf dem Boden

verschmiert

Oder indem er in einer Druckwelle plötzlich verschwindet

Oder indem er verhungert

Dennoch gibt der Mann mir, um mich zu überwachen, eine

Landkarte

Jederzeit, überall erhebt er sich auf der Landkarte

Sogar aus dem Glas heraus wird er wieder lebendig

Aber der Mann bereut

Vor Reue windet er sich

Ich muß ihn so lassen

Denn wenn ich ihn anrede

Wird er sich sofort erheben

Mich züchtigen

Wie er es zigmal, hundertmal getan hat

Seine Adern schwellen an

Vater und Bruder

Ehemann, Geliebter, Lehrer, wie er auch heißt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen