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Flohmarktspiegel der Gesellschaft

■ Unhygienisch, vermüllt, verkehrschaotisch und zu polnisch - lebendig, lebensnotwendig, weltbürgerlich: Pro und Contra Flohmarkt

Sechzig bis Hundert Mark kostet die Busanreise aus Polen zum Bremer Flohmarkt auf der Bürgerweide. Durchschnittlich ein Drittel des zu erwartenden Einkommens der Anreisenden. Die PolInnen kommen zum größten Teil schon Donnerstag abend an und bedienen auch den samstäglichen Flohmarkt am Weserufer. Für viele von ihnen ist auch der Einkauf auf dem Flohmarkt überlebenswichtig, „um meine Hungerrente aufzubessern“, so ein 67jähriger Pole in einem offenen Brief in der Schlachthofzeitung vom Juni.

Die PolInnen schlafen in oder vor ihren Bussen, dort kochen sie auch. Toiletten gibt es nur im Schlachthof, und die sind, so Schlachthofkneipenwirt Dietz Koldewey, absolut überlastet. „20 Frauen stehen dort ständig Schlange, das hält unsere Anlage einfach nicht aus.“ — Toilettenhäuschen gibt es nicht. Seit ihre Aufstellung vor zwei Jahren mit dem Argument, daß damit nur unerwünschte Gegebenheiten installiert würden, vom alten Innensenat verboten worden waren, ist nichts mehr passiert. Jetzt sind es die problematischen Hygieneverhältnisse, die als Argument gegen den Bürgerweidenflohmarkt von den Findorffer AnwohnerInnen und Innensenator Van Nispen eingebracht werden.

Auch von weiteren unhaltbaren Zuständen ist die Rede. Angeblich nehme die Prostitution bei den Bussen zu, Hehlerware und Waffen würden verschoben, zunehmend Neuware angeboten. „Nach meiner Beobachtung“, so Dietz Koldewey, „ist das mit den Waffen absoluter Unsinn. Prostitution und Kleinhehlerei mag es vereinzelt geben. Man muß einfach akkzeptieren, daß so ein Flohmarkt die Gesellschaft widerspiegelt.“

Auch die im April mit der Kündigung des Bürgerweidenpachtvertrages gegründete „Initiative zur Erhaltung des Flohmarktes“ legt allergrößten Wert darauf, daß die ausländischen BesucherInnen nicht zum städtischen Sündenbock abgestempelt werden. „Die Argumentation gegen den Flohmarkt ist rassistisch,“ sagt Uwe Schubert entschieden, „sie polarisiert die Interessenkonflikte um die Nutzung der Bürgerweide auf die Polen. In Wirklichkeit geht es doch darum, daß das Maritim- Hotel und die Stadthalle Angst um ihre Kundschaft haben, und daß feste Messehallen auf dem Flohmarktplatz geplant sind.“ Hilde Mathies ergänzt: „Die soziale Notwendigkeit und Lebendigkeit des Marktes paßt der Stadt nicht ins Bild.“

Fakt ist jedenfalls, daß die einheimischen HändlerInnen entsetzt sind über die Kündigung des Flohmarktes. Viele haben an ihren Ständen die Plakate der Bürgerinitiative hängen und kommen zu den Treffen der Initiative. Nicht alle allerdings folgen der Argumentation der Ini. „Bei unseren Informationsrundgängen über den Flohmarkt gibt es auch agressive Äußerungen über die Polen. Als würde mit deren Verschwinden alles wieder gut...“ meint Martina Renner von der Flohmarktinitiative.

Über 10.000 Unterschriften sind inzwischen gesammelt für den Erhalt des Flohmarktes. Heute um 12 Uhr sollen sie auf dem Marktplatz dem Innensenat übergeben werden. „Sicher“, heißt es aus der Innenbehörde, „die Bürger müßten auf ein Sonntagsvergnügen verzichten und finden das nicht gut. Eines können wir von unserer Seite versichern: Bürgerweide bleibt Bürgerweide. Daß dort prinzipiell kein Platz für Flohmarkt mehr sein soll, ist pure Spekulation.“ — Dann ist ja alles gut!

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